Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition)
dass er jeden denkenden Vorgriff übersteigt. Er übertrifft jeden Vorschlag, sich etwas Besseres als ihn auszudenken. Die Formel für Deus als das, worüber hinaus Besseres nicht gedacht werden kann, hat eine lange Geschichte. Sie läuft darauf hinaus: Wird etwas Vollkommeneres gedacht als ein gegebenes Gotteskonzept, dann ist eben dieses Vollkommenere der wahre Gott, der Gott, welcher der Vernunft entspricht.
Dies ist der Ausgangspunkt für den berühmten Gottesbeweis Anselms in seinem Proslogion. Anselm hat darauf bestanden, sein Argument funktioniere nicht, wenn Gott einfach als ‹das vollkommenste Wesen› definiert wird, sondern nur, wenn wir ihn bestimmen als das Wesen, über das hinaus Vollkommeneres nicht gedacht werden kann. Nur dann wird der Vernunftvorgriff als einzig seinem Wesen entsprechend mitgedacht; nur ein solches Wesen sei dem Denken unvermeidlich. Das heißt: Nur ein solches Wesen könne nicht nicht existieren. Nur ein solches Wesen existiere mit Notwendigkeit, so dass sein Nichtsein nicht einmal gedacht werden könne.
Unser Text beweist nicht, dass sein Verfasser Anselms Proslogion gelesen hat. Der Gebrauch dieser Formel belegt nicht, dass der Liber nach 1077 verfasst ist, dem Jahr, in dem Anselm in Bec sein Proslogion schrieb. Denn Anselm fand die Formel ‹Gott ist das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann› vor, bei Seneca in den Quaestiones naturales I 1. Von Seneca könnte sie auch unser Verfasser haben. Ich sage nicht, der Liber sei vor Anselm geschrieben. Nur war Anselms Ausgangsformel viel älter.
Der Kommentar zu Satz V nimmt einen ganz anderen Gang als Anselm; er gibt keinen Gottesbeweis, sondern erklärt den Zusammenhang von Einheit, Vollkommenheit, Freude über das eigene Wesen, das eigene Leben.
Diesen Zusammenhang zu verstehen und die Bauelemente der bisherigen Definitionen zusammenzuhalten, hilft das 12. Buch der Metaphysik des Aristoteles, besonders dessen 7. Kapitel. Ob der Verfasser oder Redakteur dieses Buch gelesen hat, ist hier nicht zu entscheiden; die Elemente von dessen philosophischer Theologie waren auf indirektem Wege weit verbreitet, sowohl in der griechischen wie in der arabischen und der lateinischen Welt: Gott ist die allumfassende Einheit, nach Definition I und II. Er ist Geist. Das sagt Satz IV. Geist, das ist bei Aristoteles wesenhafte Aktivität, das Denken seiner selbst und der Wahrheit. Geist, das ist Tätigkeit und Leben. Es ist ein Leben in der Wahrheit; es ist Freude und Lust. Es ist seliger Selbstbesitz.
Auf dieser Grundlage dachten neuplatonische Denker weiter, Plotin, Porphyrius, teilweise auch Augustin:[ 34 ] Die Einheit spricht sich im logos aus. Sie ist aber immer schon in sich zurückgekehrt, verlustlos. Dies hält Spruch IV fest als die Einheit von Erzeugen – gleich Zählen nach Definition I –, Sichverbalisieren und beständiger Verbindung beider. Vollkommeneres als diese höchste Einheit, die Geist, Weltdurchsicht und Selbstbesitz ist, kann nicht gedacht werden. Und dieses Vollkommenste, das gedacht werden kann, das ist Gott.
Der Kommentar spricht nicht isoliert von einer jenseitigen Gottheit; er nennt allgemeine metaphysische Einsichten: Jedes (!) Wesen hat Freude an der Wahrheit seines Wesens; diese Freude ist sein Leben; diese Freude entspringt seiner inneren, ideengeprägten Einheit. Sie ist kein Privileg einer isoliert vorgestellten Gottheit; sie durchdringt das Ganze. Es gibt Stufen der Einheit, folglich auch des Lebens – innerhalb der unendlichen Einheit, die stufenlos, unteilbar ist.
Der Kommentar erklärt, diese Definition Gottes erfolge im Hinblick auf finis , auf Ende und Ziel. Die Einheit selbst ist das Ziel. Sie hat das Ziel in sich, und jedes Wesen hat Teil an diesem Selbstzweckcharakter.
VI. Gott ist das, in Bezug auf das jedes Wesen nur eine Eigenschaft und jede Eigenschaft nichts ist.
DEVS EST CVIVS COMPARATIONE SVBSTANTIA EST ACCIDENS, ET ACCIDENS NIHIL.
Diese Definition beruht auf dem Gesichtspunkt der Beziehung.
Träger der (relativen) Eigenschaft ist deren eigene Substanz, aber zusammen mit einer anderen Substanz. Verschwindet diese, vergeht auch die Eigenschaft, also das ihr eigentümliche Wirken.
Aber in seiner Beziehung zum ersten Grund ist jedes Wesen Eigenschaft, und die Eigenschaft ist nichts. Der Substanz liegt das Nichts als das ihr Fremde zugrunde (et substat nihil substantiae ut alienum). Das göttliche Wesen ist seine eigene Substanz, die nicht im Fluss ist.
Haec definitio datur
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