Was man so Liebe nennt
gerade erzählt, daß er und Emma heiraten wollten. Joe hatte eine etwas persönlichere Antwort erwartet, merkte aber, daß sein Freund mal wieder in Schwadronierlaune war.
»Vielleicht weil sie ineinander verliebt sind?«
»Na gut. Und unverheiratete Paare sind es natürlich nicht?«
Ihre Teller waren längst abgeräumt, Vic saß noch mit dem Rest seiner Flasche bulgarischen Rotweins da, Joe vor seinem Sweet Lassi, und beide ignorierten die müden Blicke der um ihren Tisch streichenden Kellner. Joe hatte sich die Mitteilung bis zum Ende des Essens aufgespart, da er Vics abfällige Bemerkungen schon voraussah: Seit dem Wochenende in Suffolk war bereits ein Monat verstrichen. Draußen wusch der Regen die Straßen schwarz.
»Nein. Es muß mehr daran sein. In der Vergangenheit war das kein Thema. Die Leute heirateten, um Sex zu haben. Oder eine Schuld von drei Hühnern abzuzahlen.«
»Ich glaube, in Somerset machen sie das immer noch.«
»Vielleicht. Aber heute muß niemand mehr heiraten, um Sex zu haben. Im Grunde...«, und seine dunklen Augen strahlten über den eigenen Geistesblitz, »ganz im Gegenteil: Die überwältigende Mehrheit der Menschen muß heute Sex haben, um zu heiraten.«
»Wie bitte? Wo? Bei Stämmen mit irgendwelchen Initiationsriten?«
»Nein, im Ernst. Ich meine, stell dir vor, eine Frau mit der du ausgehst, aber nicht schläfst, wollte dich heiraten. Da würdest du doch auf der Stelle die Flucht ergreifen.« Vic machte eine Pause, musterte seinen geduldig lächelnden Freund von oben bis unten. »Na, du würdest wahrscheinlich nicht abhauen. Du würdest bestimmt sogar ja sagen, aus reiner Höflichkeit.«
»Ja, ich bin so ein Arsch.«
»Ja.« Vic blickte auf den Stapel After Eights auf dem Teller mit ihrer Rechnung; sie waren so regelmäßige Stammgäste im Spice, daß man ihnen immer praktisch die ganze Schachtel gab. »Ich glaube, es ist so: Stell dir Beziehungen als Pokerrunden vor, wobei die Spielmarken Liebeserklärungen sind.« Er nahm den Teller und hielt ihn schräg, bis die After Eight runterrutschten und in einem Haufen vor ihm lagen. »Am Anfang ist man vorsichtig. Man macht kleine Einsätze.« Wie ein Spieler schob er ein Schokoladenplättchen in die Mitte des Tischs, direkt hinter die vier Silberbehälter mit Chutney; dann rollte er mit den Augen und säuselte mit schmalziger Stimme: »>Du weißt, daß du anders bist als alle Frauen, die ich vor dir kannte.<« Er sah zu Joe auf, ob er das Spiel verstand. Dann schob er ein zweites Schokoladenplättchen in die Tischmitte und sagte: »>Gott, ich hätte nie geglaubt, daß ich jemand kennenlernen würde, der so auf meiner Wellenlänge ist.<«
»Ist schon gut, ich hab verstanden«, sagte Joe und fragte sich, wie lange Vic wohl noch weitermachen wollte. Emma hatte gesagt, sie würde später vorbeikommen.
»Dann«, sagte Vic, »wenn dir wirklich an der Frau liegt, mußt du deinen Einsatz erhöhen.« Jetzt schob er zwei After Eight über den Tisch.
»>Ich habe dich wirklich sehr, sehr gern, weißt du.<«
Noch zwei After Eights.
»>Bisher hatte ich immer Angst, mich zu binden, aber jetzt...<«
Dann drei.
»>Mum. Dad. Das ist Sally.<« Er nahm die letzten Schlucke Wein aus seinem Glas. »Und dann, am Ende des Besuchs, seht ihr euch in die Augen.« Er schob die fünf restlichen Schokoladen in die Mitte des Tischs.
»>Ich liebe dich<«, sagte Vic.
»Und du legst dein Blatt auf den Tisch«, antwortete Joe ruhig.
»Genau!« sagte Vic lächelnd. »Das Dumme ist bloß, daß du beim Poker das Spiel an dem Punkt beenden kannst. Aber in der Liebe mußt du dauernd deinen Einsatz erhöhen.«
»Wirklich?«
»Jaah! >Ich liebe dich< ist dem Gesetz des abnehmenden Ertrags unterworfen; genau wie...«, er nickte in Richtung seines Schoßes, »ein oder zwei andere kritische Punkte in der Liebe. Wenn du sie zu oft aus der Schatulle holst, nutzen sie sich ab.«
Joe lachte, fühlte sich aber ein bißchen befremdet, so wie manchmal, wenn Vic so loslegte und im Grunde gar nicht mit ihm redete, sondern ihn lediglich als Resonanzboden benutzte für die tabubrechende Meinung, die zufällig im Mittelpunkt des gerade angesagten Vic Mullan-Manifests stand.
»Genau das passiert mit >Ich liebe dich<«, schwadronierte Vic weiter und unterstrich mit einer Handbewegung jeden Punkt. »Derselbe Satz, den du einmal auf Hollywood- oder Heathcliff-Art in strömendem Regen herausgeschrien hast — jetzt sagst du ihn dumpf am Ende jedes Telefongesprächs, direkt
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