Was man so Liebe nennt
Als er gestern abend von seinem Labor wegfuhr, hatte er nicht die Absicht gehabt, die Nacht als Ehebrecher zu beenden, und Emma nur deshalb nichts von seiner Mission bei Tess erzählt, weil er erst mit Tess sprechen und herausfinden wollte, ob sie wirklich die »Tessa Carroll« in seinem Computer war. Aber obwohl er die Botschaft in aller Unschuld auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte, war Joe jetzt, als klänge irgendwo Verrat aus ihr heraus. Er meinte, ein fernes Echo von Häme und Hohnlachen in seiner Stimme zu hören, wie bei einem Bühnenbösewicht.
Er blickte auf den Anrufbeantworter, der immer noch flackerte. Auf der Heimfahrt war ihm mehr als einmal in den Sinn gekommen, daß er Emma die Botschaft erklären mußte, sich etwas Neues ausdenken, um ihr das »Es hat irgendwie mit der Arbeit zu tun« plausibel zu machen. Wie drastisch bin ich jetzt aus dieser Klemme befreit, dachte er finster.
Apathisch wanderte seine Hand vom Anrufbeantworter zum Telefon. Er schob den Zeigefinger in ein beliebiges Nummernloch und drehte die Scheibe. Warum hatten sie bloß dieses alte Scheißding gekauft, dachte er plötzlich wütend: Er hatte das Gefühl, ihm würde der Finger brechen bei der Anstrengung, die Wählscheibe in Bewegung zu setzen. Aber dann verflog sein Ärger so schnell, wie er gekommen war, und er fühlte sich plötzlich allein, entsetzlich allein, und sagte sich, daß die Polizistin recht gehabt hatte; er mußte mit jemandem sprechen. Aber mit wem? Er wußte, wen er anrufen wollte. Jemanden, der herkommen und ihm Trost und Beruhigung spenden und ihn im Arm halten würde, bis der Schock und die Angst und die Schuldgefühle vorüber waren: Mit anderen Worten, er wollte Emma anrufen. Und so war es vielleicht nicht verwunderlich, daß es, als er schließlich wählte, die Nummer der Frau war, die in seinem Unterbewußten bereits an Emmas Stelle zu treten begann — schon, seit er heute nacht ihr Haus verließ.
Philosophen haben oft darüber gestritten, was mächtiger ist, Eros oder Thanatos, Sex oder Tod. Auf einer simplen Ebene gesehen, gewinnt eindeutig Sex, und zwar haushoch, zumindest wenn wir Eros und Thanatos, wie Freud es tat, als zwei entgegengesetzte Triebe verstehen. Als Trieb besitzt der Tod wenig Anziehungskraft. Wer fühlte sich zum Beispiel getrieben, kurz hoch in sein Zimmer zu gehen, um sich schnell mal umzubringen, was im Kanon des Todes der Masturbation wohl am nächsten käme? Höchstens Jugendliche, und auch die frönen meistens hauptsächlich Letzterem.
Die Szene in Joes Haus, nachdem Vic und Tess dort angekommen waren, ist ein weiteres Zeugnis für die Macht von Sex über den Tod. Sex durchsetzt das Bewußtsein in jedem Moment und in allen Schichten. Wohl jeder kennt die schlappe alte Comedy-Ablachszene, in der ein Mann versucht, beim Sex an ausgesprochen asexuelle Dinge zu denken, um den Orgasmus hinauszuzögern; viel seltener wird allerdings über das Gegenteil gesprochen — die verbreitete Neigung, während ausgesprochen asexueller Dinge an Sex zu denken: zum Beispiel bei Beerdigungen oder, wie im diesem Fall, im ersten Schock über den Tod.
Um allen beteiligten Parteien gegenüber gerecht zu sein: Daß Sex sich in ihre Gedanken einschlich, darf in ihrem Fall nicht im selben Lichte gesehen werden wie bei einem sexuell inkontinenten Teenager in der gleichen Situation. Wie hätte ihnen Sex wohl nicht im Kopf sein sollen? Was Joe besonders zu schaffen machte, war die Laschheit des Todes angesichts von Sex. Als er Tess anrief, hatte er nicht erwartet, daß Vic den Hörer abnähme, und die Vorstellung, daß er bei ihr war — » Wir kommen sofort zu dir«, hatte er gesagt — , bekümmerte Joe, nachdem er aufgelegt hatte, aber nur eine Sekunde; so wie die Dinge lagen, sagte er sich, würde es ihm nichts ausmachen, Tess direkt nach ihrer gemeinsamen Nacht mit Vic zusammen zu sehen. Wahrscheinlich käme es ihm gar nicht in den Sinn.
Aber es kam ihm in den Sinn. Praktisch in dem Moment, als sie ankamen. Denn die tröstenden Berührungen vermengten sich so verwirrend mit sexuellen. Vic nahm Joe als erster in den Arm, und selbst in dem Moment, als er Vic sagen hörte, wie leid es ihm tue, wie schrecklich leid, konnte Joe sich nicht ganz der Umarmung seines Freunds überlassen, weil er über Vics Schulter hinweg Tess in der Haustür stehen sah, eingerahmt von dem mit weißen Wolken gesprenkelten blauen Himmel, und inmitten all der Betrübtheit, Sorge und dem Mitleid in ihrem Gesicht entdeckte
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