Was sich kusst das liebt sich
plötzlich sehr müde und niedergeschlagen.
» Wer keine Erfahrungen macht, bleibt wenigtens vor Verletzungen verschont«, murmelte Max so leise, dass Neve die Ohren spitzen musste, um ihn zu verstehen. » Ich geb dir meine Nummer.«
Sie hätte ihm am liebsten gesagt, dass sie ihn nie mehr wiedersehen wollte, weil sie alles, was er von sich gab, so nervenaufreibend fand, als würde er sie mit einem riesigen Stahlwollknäuel bearbeiten, aber sie schaffte es nicht. Es war viel einfacher, ihm ihr Handy zu reichen, damit er seine Nummer eintippen konnte. Neve schwor sich, sie zu löschen, sobald sie zu Hause war.
Kapitel 8
Nach zwei schlaflosen Nächten, in denen Neve die Unterhaltung mit Max im Hat and Fan nicht aus dem Kopf gehen wollte, schleppte sie sich am Montagmorgen mit schweren Füßen und ebenso schwerem Herzen die Treppe hinunter. Sie hätte sich dauerohrfeigen können, weil sie Max so viel von sich erzählt hatte, und sie war fest entschlossen, den Großteil des Tages damit zu verbringen, ihre unausgegorenen Gedanken über unbeschwerte Affären und Beziehungen ohne jegliche Verpflichtungen zu ordnen. Als sie auf der Fußmatte ein blaues Luftpostkuvert erspähte, stürzte sie sich mit einem aufgeregten Aufschrei darauf, und alle Gedanken an Max waren augenblicklich vergessen. Zu schade, dass sie in vierzig Minuten in Holborn sein musste, weil sie vor der Arbeit mit ihrem Kollegen Philip zum Frühstück verabredet war, sonst hätte sie sich gleich auf der untersten Stufe niedergelassen und den Umschlag aufgerissen. Stattdessen strich sie sich mit dem Kuvert über die Wange und stellte sich vor, sie könnte Williams Hand spüren, die es in seiner kalligrafieähnlichen Handschrift mit Namen und Adresse versehen hatte– bis sie ihr verträumtes Lächeln im Vorzimmerspiegel sah.
Es war schwierig, sich auf Philips neueste Panikattacke wegen seiner Doktorarbeit zu konzentrieren, während der Umschlag ein Loch in ihre Tasche brannte. Philip war Mitte vierzig und hatte angefangen zu studieren, nachdem er seinen Job an der Terminbörse verloren hatte. Er hatte eine Scheidung und einen Umzug aus einem Haus mit vier Schlafzimmern in Chiswick in eine Einzimmerwohnung in Ealing hinter sich, und zu guter Letzt hatte er sich auch noch als schwul geoutet– und das alles innerhalb von sechs Monaten. Das war jetzt vier Jahre her, und seine stets etwas ängstliche Miene ließ Neve ernsthaft daran zweifeln, dass er den Schock überwunden hatte. Der akademischen Laufbahn hatte er sich etwa zur selben Zeit verschrieben wie der Beziehung mit einem Antiquar namens Clive, wobei ihm beides nicht sonderlich viel Freude bereitete.
» …und neulich meinte er, dass jeder von uns das Recht haben sollte, auch mit anderen Männern zu schlafen«, berichtete Philip finster, während Neve abwartete, bis ihr Porridge etwas abgekühlt war.
» Und, trennst du dich von ihm?« Wie immer widerstand Neve dem Drang, Philip zu sagen, dass er ohne Clive viel besser dran wäre. Auf Neves Geburtstagparty voriges Jahr hatte Clive versucht, Gustav die Zunge in den Hals zu stecken, obwohl er ihn zu diesem Zeitpunkt gerade mal fünf Minuten gekannt hatte. Und dann war da noch Philips Exfrau, die nun mit ihrem dreiundzwanzigjährigen Freund in dem Haus mit den vier Schlafzimmern in Chiswick lebte und den Rest von Philips Abfindung verprasste. Philip hatte wirklich ein sehr, sehr schlechtes Händchen bei der Wahl seiner Lebenspartner.
» Nein. Wir führen ja jetzt eine offene Beziehung«, schniefte Philip. Seine Augen hatten verdächtig rote Ränder, als hätte er geweint, bis er in Holborn aus der U-Bahn gestiegen war. » Ich kann nicht fassen, dass ich mit meinen fünfundvierzig Jahren immer noch diesen ganzen Sturm und Drang durchmachen muss. Ich hoffe, du weißt dein sorgenfreies Singledasein zu schätzen.«
Neve fand das Singledasein nun nicht gerade sorgenfrei, im Gegenteil: Es bereitete ihr gerade ziemlich viele Sorgen.
» Ehrlich gesagt fühle ich mich beinahe bereit, mit Männern auszugehen«, gestand sie, denn Philip war ein guter Kandidat, um ihre Idee zu erörtern. Oder vielleicht doch nicht– er musterte sie mit unverhohlenem Entsetzen, und seine Augenbrauen erhoben sich weit über den Rand seiner Halbmondbrille.
» Ach ja, tatsächlich?«
Neve nahm einen hastigen Schluck von ihrem Caffè Latte mit fettarmer Milch, wobei sie sich ordentlich die Zunge verbrühte, aber das war immer noch besser, als ihren Entschluss vor einem völlig
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