Was sich kusst das liebt sich
verständnislosen Philip zu verteidigen. » Früher oder später muss ich damit anfangen. Ich möchte nicht enden wie Unsere liebe Frau vom gesegneten Taschentuch, du weißt schon.«
Philip schauderte. » So möchte niemand enden. Du willst dich also in die rauen Gewässer der Liebe vorwagen. Weißt du schon wie?«
Genau da lag der Hund begraben. Irgendwelchen wildfremden Männern schöne Augen zu machen, hatte nicht besonders gut funktioniert. » Ich habe in der Zeitschrift Skirt einen Artikel über Speed-Dating gelesen.«
Philip schnappte nach Luft. » Vergiss es, Neve! Das überlebst du nicht. Es wäre so, als würde man einen querschnittgelähmten Christen den Löwen zum Fraß vorwerfen.«
» Sehr hilfreich, vielen Dank«, brummte Neve. » Ich habe gesagt, dass ich mich beinahe bereit fühle, mit Männern auszugehen. Im Übrigen habe ich durchaus schon etwas Erfahrung mit dem anderen Geschlecht.« Was der Wahrheit entsprach, denn jetzt hatte sie schon zweimal beinahe Sex gehabt. Außerdem kannte sie viele heterosexuelle Männer. Ihren Bruder und ihren Vater zum Beispiel. Sie sprach nicht nur Aziz vom 24-Stunden-Supermarkt mit dem Vornamen an, sondern auch Dave vom Secondhand-Möbelladen, der sie stets gleich anrief, wenn er ein neues Bücherregal hereinbekam, und auch Mr Freemont vom LLA redete sie mit » Neve« an. Allerdings war Neve nicht sicher, ob er als heterosexueller Mann durchging. Sie wollte lieber nicht daran denken, dass er überhaupt Genitalien hatte.
» Natürlich«, meinte Philip beschwichtigend. » Wie wär’s denn mit Adrian, Clives Assistent?«
Adrian war ein gertenschlanker Jüngling, den sie noch aus Oxford kannte und der immer so wirkte, als würde er sich träge in einem Kahn räkeln. » Adrian ist schwul.«
» Nein, ist er nicht.« Philip schnalzte mit der Zunge. » Du magst zwar Erfahrung mit dem anderen Geschlecht haben, aber dein Schwulenradar versagt gelegentlich.«
Philip war ein total unbrauchbarer Schwuler. Seit er den zweiten Bildungsweg eingeschlagen hatte, versuchte er, seiner neuen Rolle mittels Cordsamthosen und Tweedjacken gerecht zu werden, aber Neve hatte oft den Eindruck, dass er sich insgeheim nach seinem grauen Nadelstreifenanzug sehnte. » Auf jeden Fall musst du Clive sagen, dass für dich nur eine monogame Beziehung infrage kommt«, fügte sie hinzu, um die Aufmerksamkeit von ihrem eigenen nicht existenten Liebesleben wieder auf das ihres Kollegen zu lenken.
» Aber eine offene Beziehung ist immer noch besser als ein Leben ohne ihn«, sagte Philip leise– mehr zu sich selbst als zu Neve. Er lächelte sie tapfer an, mit wässrigen Augen. » Bist du auch ganz sicher, dass du eine Beziehung willst? Es könnte gefährlich werden…«
Es würde nicht gefährlich werden. Sie würde sich ein bisschen amüsieren, ihren Spaß haben und ihr Herz sicher unter Verschluss halten, bis William zurück war, um es zu erobern. Oder war es doch wichtiger, an ihrem Körperumfang statt an ihrer Beziehungsfähigkeit zu arbeiten? Neve machte bloß » Hmmm« und war erleichtert, als Philip meinte, sie hätten nun genügend geplaudert, und zum Geschäftlichen überging. Beim Anblick des dicken Ordners, den er aus seiner Ledertasche zog, hätte sich Neve fast an ihrem Kaffee verschluckt.
» Wow, das ist eine Menge Papier. Wie viel hast du denn seit unserem letzten Treffen geschrieben?«
Wenn er nicht im Archiv schuftete, dann arbeitete Philip an seiner Doktorarbeit über den Dichter Stephen Spender, und Neve hatte sich leichtsinnigerweise bereit erklärt, das Konvolut Korrektur zu lesen.
» Der zweite Entwurf umfasst ungefähr dreißigtausend Wörter«, erklärte Philip stolz. » Aber ich bin noch meilenweit vom Ende entfernt.«
» O.K., gib her«, seufzte Neve und streckte die Hand aus, während sie sich mental darauf einstellte, dreißigtausend Wörter über einen Dichter zu lesen, den sie nicht ausstehen konnte.
Philip schüttelte missbilligend den Kopf. » Du kennst unsere Abmachung, Neve. Eine Hand wäscht die andere.«
Neve schob ihre Tasche etwas weiter unter den Stuhl. » Aber du hast schon wieder zehntausend Wörter geschrieben, und ich viel, viel weniger.«
» Wo bist du gerade?« Philip rückte seine Brille zurecht, um sie besser beäugen zu können.
» Lucy ist jetzt in Oxford und hat Charles Holden kennengelernt, hält ihn aber noch für ein absolutes Schwein«, erzählte Neve. » Schon komisch– wir wissen beide, dass sich ihr Leben durch die Begegnung mit ihm
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