Was sich kusst das liebt sich
sich in einem Raum mit einem Bett befand.
Als er seine Doc Martens aufschnürte, griff Neve rasch wieder zu ihrem Buch und versuchte, sich locker zu geben, obwohl das alles schrecklich neu und ungewohnt für sie war.
» Was liest du da?«, erkundigte sich Max, während er sich seiner Socken entledigte. Er hatte schöne Füße für einen Mann; jedenfalls waren sie nicht allzu behaart.
Neve hob ihr Buch, damit er den Titel lesen konnte, und deutete auf den geschrumpften Stapel auf ihrem Nachttisch. » Du kannst dir gern eins ausleihen.«
Max lehnte sich mit halb aufgeknöpftem Hemd über sie, um das Angebot zu überprüfen, und begrub sie dabei unter sich. » Ah, das wollte ich schon immer lesen.«
Neve hätte beinahe » Waaas? Du hast Der Fänger im Roggen noch nicht gelesen?« gekreischt, doch sie sagte nur: » Ich glaube, das wird dir gefallen.«
Wenn er sich doch endlich fertig ausziehen und ins Bett legen würde, damit sie den nächsten Schritt diskutieren konnten! Oh, oh. Jetzt hatte er Mansfield Park entdeckt.
» Wenn du noch nichts von Jane Austen kennst, dann solltest du nicht mit dem da anfangen. Fanny Price funktioniert als moderne Heldin nicht ganz so gut wie Elizabeth Bennet.«
Er legte es so hastig wieder hin, als hätte er sich die Finger verbrannt. » Okay, vielleicht fange ich einfach mal mit dem Fänger im Roggen an und arbeite mich dann zu Jane Austen hoch.« Er richtete sich auf, sodass Neve ihre Beine wieder bewegen konnte, und klopfte sich mit dem Buch auf die Handfläche. » Ich werde es pfleglich behandeln.«
» Der Fänger im Roggen ist zwar Salingers bekanntestes Werk, aber ich persönlich ziehe seine Kurzgeschichten über die Familie Glass vor«, hörte sich Neve in ihrer hochnäsigsten Stimme sagen. Es klang, als hätte sie den Mund voller Pflaumen. » Meiner Ansicht nach ist Franny und Zooey noch besser als Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute, allerdings ist es schwierig, Salingers Œuvre in seiner Gesamtheit zu evaluieren, weil es hauptsächlich aus Novellen und Kurzgeschichten besteht.«
» Mhm. Werd’s mir merken«, murmelte Max und zog sich das Hemd samt T-Shirt über den Kopf. Neve fand das Muskelspiel seines Rückens weit interessanter als J. D. Salinger. Max war drahtig, ohne schmächtig zu wirken, und seine Muskeln waren definiert, aber nicht so ausgeprägt wie bei Gustav, der stets aussah, als müsste er jeden Augenblick aus seinem engen Lycra-Top platzen. Über den Rand ihres Buches hinweg verfolgte sie, wie sich Max an der Gürtelschnalle zu schaffen machte, wobei sich sein Bizeps wölbte.
Sie schluckte. » Man könnte argumentieren, dass die einzigen Texte, die uns von Salinger zur Verfügung stehen, genau genommen Jugendwerke sind und dass sein anschließender Rückzug ein Versuch war, sich selbst zur Legende zu machen, weil er nicht zugeben wollte, dass er an die Verheißungen seiner ersten großen Erfolge nicht anschließen konnte.« Neve zog die Nase kraus. Sie konnte einfach nicht aufhören, und ihre Stimme wurde immer schriller, aber sie war machtlos. » Er wäre nicht der erste derartige Fall. Rimbaud etwa hat im Alter von einundzwanzig Jahren das Schreiben eingestellt.«
Max bedachte sie mit einem trägen Grinsen. » Neve?«
» Ja?«
» Ich verstehe nur Bahnhof. Es besteht kein Grund, nervös zu sein. Wir werden bloß im selben Bett schlafen, weiter nichts. Tu einfach so, als wäre ich ein großer Teddybär.«
Gute Idee, allerdings im selben Augenblick zunichtegemacht vom Ratschen seines Reißverschlusses. Ihr wurde bewusst, wie lächerlich das alles war. In ihrem rosaroten Schlafzimmer war ein Mann, der sich gerade auszog, und diese Tatsache ließ den Raum kein bisschen weniger mädchenhaft wirken.
» Hast du einen Schlafanzug dabei?«, krächzte sie, als sich Max aus den Jeans schälte. Darunter kamen Boxershorts zum Vorschein.
» Ich trage nie einen Schlafanzug.« Er kratzte sich unbekümmert an der Brust. Also, wenn er gedachte, nackt neben ihr zu schlafen, dann würde Neve die ganze Aktion auf der Stelle abblasen. Sie war noch nicht bereit für die Konfrontation mit völliger Entblößtheit, und zuweilen hatte sie das Gefühl, dass sie es nie sein würde.
Sie war das einzige stets bekleidete Mitglied einer Familie gewesen, die sich ständig auszog, und es war grauenhaft gewesen. Vor allem die Freitagnachmittage hatte sie als besonders qualvoll erlebt. Kaum war ihr Vater von der Arbeit nach Hause gekommen, hatte man sie losgeschickt, um fünf
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