Was sie nicht weiss
gefahren. Großartig, diese Villen!«
»Tessa lebt in jeder Hinsicht großartig. Guido ist adlig und viele seiner Bekannten und Freunde auch. Die reden manchmal, als kämen sie von einem anderen Planeten. Wenn sie sich zu Tisch setzen, sagen sie zum Beispiel nie ›guten Appetit‹ – das ist regelrecht verpönt.«
»Warum denn das?«, fragt Fred verwundert.
»Was weiß ich. Vielleicht ist es eine Beleidigung für den Koch oder für die Gastgeberin.«
»Interessant …«, murmelt Nanda. »Und die adligen Verwandten deines Schwagers sind an Weihnachten wohl auch alle da, was?«
»Mit Sicherheit. Bestimmt wird es wieder eine absolut großartige Angelegenheit. Mit Tischordnung und Protokoll und allem Drum und Dran. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich darauf freue!«
Fred grinst breit. »Dann tu einfach so, als wärst du krank, und komm heimlich zu uns«, sagt er und legt sich noch ein Stück Brathähnchen auf den Teller. »Guten Appetit!«
13
Spätabends kommt Lois von der Arbeit nach Hause. Wie immer hat sie die Stunde bei Fred und Nanda sehr genossen. Das Zusammensein mit so herzlichen, fürsorglichen Menschen tut einfach gut, auch wenn ihr dabei jedes Mal schmerzhaft bewusst wird, dass sie selbst kein Familienleben hat.
Mit schnellen Schritten geht sie die Treppe hinauf und zieht ihre Sportsachen an. Während sie sich die Stöpsel ihres MP3-Players in die Ohren steckt und das Laufband anstellt, lässt sie das Gespräch mit Fred und Nanda Revue passieren.Über ihre eigene Familie zu sprechen fällt ihr noch immer schwer, daran haben auch die vielen Therapiesitzungen vor rund zehn Jahren nichts geändert.
Lois hatte noch eine zweite Schwester. Die kleine Maren war ein Nachkömmling und starb mit fünf Jahren an Hirnhautentzündung. Die Mutter kam nie über den Verlust des Kindes hinweg. Sie verlor sich in ihren Depressionen und machte ihrem Mann Mart Vorwürfe, was zu endlosen Streitereien führte. Als Lois vierzehn war und Tessa zwölf, verließ ihr Vater die Familie. Sie unterstützten die Mutter, so gut es ging, aber für sie hatte das Leben jeden Sinn verloren. Trinken half ihr, den Schmerz zu vergessen, und sie brauchte immer mehr Alkohol, um die Tage zu überstehen.
Schließlich lag sie nur noch auf dem Sofa und traute sich kaum mehr unter Menschen. Wer von den beiden Schwestern als Erste von der Schule nach Hause kam, ging einkaufen, die andere übernahm das Kochen. Stand ein Elternabend an, ging ihre Mutter entweder gar nicht hin oder mit einem Kater. Wenn Lois an einem Leichtathletik-Wettkampf teilnahm oder Tessa an einer Aufführung ihrer Ballettschule, fehlte ihre Mutter unter den Zuschauern. Zu Hause durften die Mädchen keine Musik hören und nur leise sprechen, und Freundinnen einladen ging auch nicht. Paulette Elzinga bestellte die Zeitung ab und schaltete den Fernseher nicht mehr ein, denn jede schlimme Nachrichtenmeldung war für sie eine persönliche Katastrophe.
Natürlich hatten Lois und Tessa versucht, sie vom Trinken abzuhalten. Sie schütteten Weinflaschen in den Ausguss und versteckten ihre Geldbörse. Sie informierten den Hausarzt, der daraufhin ein ernstes Gespräch mit der Mutter führte. Diese gelobte Besserung, ließ sich einen Prospekt der Anonymen Alkoholiker geben und versprach, zum nächsten Treffen zu gehen, doch der Prospekt endete als Untersetzer für das Weinglas.
Irgendwann einmal versuchte die Mutter, Lois zu erklären, wie man sich als depressiver Mensch fühlt, wie einem vor jedem neuen Tag graut, ohne dass man sagen könnte, warum.
Lois gab sich Mühe, ihre Mutter zu verstehen, aber so ganz gelang das nicht. Denn sie kannte andere Leute, die von ihrem Partner verlassen worden waren oder einen lieben Menschen verloren hatten. Auch sie durchlebten eine schwere Zeit, in der Wut und Kummer den Alltag bestimmten, doch allmählich ließ der Schmerz nach, sodass es möglich wurde, das Geschehene zu akzeptieren.
Diesen Prozess hatte ihre Mutter nicht durchlaufen. Sie war in der ersten Phase, dem Nicht-Wahrhaben-Wollen, stecken geblieben. Lois verstand einfach nicht, weshalb sie an gar nichts mehr im Leben Freude hatte, nicht einmal an ihren Töchtern, die sie liebten. Sie wusste allerdings genau, dass es auf Dauer nicht gut gehen konnte.
Und so kam es auch. Lois war gerade einundzwanzig geworden und steckte noch in der Ausbildung an der Polizeiakademie in Amsterdam, als ihre Mutter einen Autounfall hatte. Sie war betrunken gegen den Pfeiler eines
Weitere Kostenlose Bücher