Was sie nicht weiss
Viadukts gefahren. Noch auf dem Weg in die Klinik starb sie an ihren schweren Schädelverletzungen.
Lois stellt das Laufband schneller. Der Schweiß rinnt ihr übers Gesicht, doch genau das genießt sie. Je zügiger sie läuft, desto weniger Raum bleibt zum Nachdenken.
So viel man auch über seine Kindheit redet, wenn man sich nicht irgendwann mit den Tatsachen abfindet, bleibt man stecken. Durch die Gespräche mit einem Psychologen hat Lois gelernt zu akzeptieren, dass in ihrer Familie vieles schiefgelaufen ist und dass sie mit den schmerzlichen Erinnerungen leben muss. Was nicht heißt, dass sie den Schmerz nicht mehr fühlt. Oder dass sie nicht mehr an ihren Vater denkt und sich fragt, wie es ihm wohl gehen mag. Obwohl es ihr als Polizistin ein Leichtes wäre, herauszufinden, wo er jetzt lebt, macht sie es nicht. Vor allem nach der Trennung von Brian, die ihr schwer zugesetzt hat, will sie dem Schicksal auf keinen Fall die Chance geben, erneut zuzuschlagen.
14
Das Gemälde nimmt langsam Gestalt an. Der erste Farbauftrag ist trocken, sie kann jetzt die nächste Schicht aufbringen und die bislang nur vagen Formen herausarbeiten. Vielleicht bleibt es aber auch bei dieser impressionistisch anmutenden Darstellung dreier Gestalten, die sich im Nebel auflösen. In einem Nebel aus dumpfen Blautönen mit nur einer hellen Spur Grau.
Maaike tritt ein paar Schritte zurück und nimmt ihr Werk in Augenschein. Es ruft keine Zufriedenheit bei ihr hervor, aber schlecht ist es auch nicht geworden.
In letzter Zeit betreibt sie das Malen wie eine Art Beschäftigungstherapie. Dabei entstehen meist Figuren in undefinierbaren Landschaften, und die matten, manchmal auch düsteren Farben drücken aus, wie sie die Welt zurzeit sieht.
Hin und wieder malt sie etwas Heiteres, Gefälliges, das gut verkäuflich ist. Die meisten Bilder aber entstehen jetzt wie von selbst, ohne Plan und Konzept. Wenn sie einen ganzen Abend lang gemalt hat, schläft sie in ihrer Malkleidung voller Farbspritzer erschöpft ein und hat am nächsten Tag kaum eine Erinnerung daran, was sie gemacht hat. Dann steht sie vor der Staffelei und betrachtet staunend die Leinwand.
Die düsteren Bilder hebt sie nicht auf, sondern entsorgt sie so schnell sie nur kann, denn sie üben einen Sog auf sie aus, wollen sie in eine Sphäre ziehen, in der sie nicht sein will, mit der sie abgeschlossen zu haben glaubt. Und in die sie nie mehr zurückkehren will.
Seit sie eben unter der Dusche war, fühlt sie sich besser, auch wenn das Herz nach wie vor unruhig schlägt.
Vielleicht sollte sie ein wenig rausgehen, frische Luft schnappen, am Waagplein eine Kleinigkeit zu Abend essen. Sie hat schon immer ungern für sich allein gekocht, und heute hat sie dazu noch weniger Lust als sonst.
Maaike schlüpft in ihre Jacke, steckt Handy und Geldbörse ein und geht die lange, steile Treppe zur Haustür hinab. Kurz darauf steht sie an der Gracht vor dem Haus.
Sie hatte gehofft, die Kälte würde die drückenden Gedanken vertreiben, doch sie spuken weiter durch ihren Kopf. Seit sie weiß, dass David Hoogland ermordet wurde, kämpft sie gegen ein unheilvolles Gefühl an, das immer mehr Besitz von ihr nimmt. Es war eine Illusion zu glauben, sie könnte nach all den Jahren sicher in ihre Heimatstadt zurückkehren.
Sie ist nicht die Einzige, die zurückgekehrt ist.
Maaike ist schon fast am Ende der Gracht, als ein Kleinwagen heranfährt und einparkt. Im Licht der Straßenlaterne erkennt sie Danielas weißen Opel Corsa. Verwundert bleibt sie stehen und wartet, bis ihre Freundin ausgestiegen ist.
»Was machst du denn hier?«, fragt sie, nachdem sie einander begrüßt haben.
»Ich sollte doch Bilder abholen, weißt du das denn nicht mehr?«
Jetzt erinnert Maaike sich wieder an die Verabredung. »Das hatte ich total vergessen«, sagt sie. »Wärst du eine Minute später gekommen, hättest du vor verschlossener Tür gestanden.«
»Na, dann hätte ich dich eben angerufen, damit du kommst«, meint Daniela lachend. »Wo willst du denn hin?«
»Zum Waagplein, etwas essen. Magst du nicht erst mitkommen?«
»Gern, Hunger hab ich auch«, sagt Daniela gut gelaunt.
Sie schließt ihr Auto ab, steckt den Schlüssel in die Handtasche und hakt sich bei Maaike unter. »Na, wie ist es so, wieder in der Käsestadt zu sein? Hast du dich gut eingewöhnt?«
»Ja, das ging recht schnell. Ist ja auch klar, schließlich bin ich hier aufgewachsen.«
»Trotzdem kann man sich anfangs ein wenig fremd fühlen.
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