Was sie nicht weiss
Abschluss war Daniela klar geworden, dass es mit ihrem künstlerischen Talent nicht so weit her war wie erhofft. Deshalb hatte sie sich einem anderen Bereich der bildenden Kunst zugewandt und war Galeristin geworden. Von Anfang an hatte Maaike mit ihr zusammengearbeitet. Ihre Begabungen ergänzten sich ideal: Maaike widmete sich ganz dem Malen, und Daniela mit ihrem ausgeprägten Geschäftssinn brachte ihre Bilder erfolgreich an den Mann.
Nicht nur als Galeristin ist Daniela für Maaike unentbehrlich, sie ist auch ihre Vertraute, ihre beste Freundin, die alles über sie weiß. Zwischendurch hatte Maaike Zweifel, ob es richtig gewesen war, Daniela ihre Lebensgeschichte zu erzählen, aber auch nach der gemeinsamen Zeit an der Kunstschule war sie stets loyal, sodass Maaike das Gefühl hat, sich in jeder Lage auf sie verlassen zu können.
Lächelnd sieht sie zu, wie Daniela aussteigt, sich die Tasche umhängt und das Auto abschließt. Schnell und mit festen Schritten geht sie auf die Tür zu und klingelt – laut und ungewöhnlich anhaltend.
Was hat das zu bedeuten? Ist sie etwa wütend?
Zögernd bleibt Maaike stehen. Wenn sie jetzt tut, als wäre sie nicht da, geht Daniela vermutlich. Aber bestimmt kommt sie bald wieder.
Wahrscheinlich ist es besser, sie hereinzulassen. Wenn sie miteinander reden, löst sich der Nebel in ihrem Kopf vielleicht auf, und sie sieht wieder eine Perspektive. Daniela weiß fast immer, was sie tun soll.
Maaike eilt hinab und öffnet die Haustür.
»Hallo, Daniela. Schön, dass du wieder da bist. Wie war’s bei deinen Eltern?«
Statt zu antworten, drängt Daniela sich an ihr vorbei und stapft die Treppe hinauf.
Oben im Atelier holt sie eine Zeitung aus ihrer Tasche und knallt sie auf den Tisch zwischen die Farbtuben und Pinsel. Ihre Stimme ist laut und ihr zorniger Blick verunsichert Maaike. Gerade jetzt wäre ihr ein Streit unerträglich.
Sie nimmt einen Pinsel zur Hand und tritt vor die Staffelei.
»Maaike, ich rede mit dir!«
»Du hast mir lediglich etwas mitgeteilt. Reden geht anders.«
Es bleibt so lange still, dass sie einen kurzen Blick riskiert.
Daniela sitzt auf dem Sofa und massiert ihre Schläfen. »War es Tamara?«, fragt sie gepresst.
Maaike zuckt die Schultern und malt weiter.
»Es hat keinen Sinn, so zu tun, als ginge dich das nichts an! Du hast ein riesengroßes Problem, ist dir das überhaupt klar? Es wird rauskommen, garantiert!«
»Bis jetzt hat die Polizei keine Ahnung, wer es war, obwohl ich von Tamara erzählt habe, allerdings nur, dass sie vergewaltigt wurde.«
Graue Tupfer auf das Blau. Noch mehr Grau. Trotzdem ist das Bild noch zu blau, viel zu blau. Maaike arbeitet weiter.
Erst als Daniela plötzlich neben ihr steht, löst sie den Blick von der Leinwand. In den Augen ihrer Freundin liest sie Sorge und Mitgefühl, da endlich erlahmt ihr Widerstand. Der Pinsel entgleitet ihren Fingern und fällt zu Boden.
»Was soll ich denn tun?«, fragt sie verzweifelt. »Wie soll ich Tamara stoppen?«
»Du musst zur Polizei gehen«, sagt Daniela leise. »Wirklich, es ist am besten so. Ich weiß, du willst nicht, aber du musst ihnen alles erzählen. Eine andere Lösung gibt es nicht.«
»Du selber hast immer gesagt, ich solle mit keinem darüber sprechen. Mit keinem außer dir.«
»Ich weiß, aber jetzt ist die Situation eine andere. Ich bin zur Mitwisserin an zwei Morden geworden! Wenn du nicht zur Polizei gehst, mach ich es. Noch heute.«
Maaikes ängstlicher Blick wird mit einem Mal hart. Sie beißt nicht mehr nervös auf ihrer Unterlippe herum, sondern presst den Mund zu einem schmalen Strich zusammen und reckt das Kinn vor.
»Das tust du nicht!« Auch die Stimme klingt anders, tiefer als sonst und gebieterisch.
Schlagartig begreift Daniela, dass nicht mehr Maaike vor ihr steht – es ist jemand anders. Jemand, mit dem sie schon öfter Auseinandersetzungen hatte, allerdings nicht von solcher Tragweite.
»Tamara …«, stammelt sie, geht ein paar zögerliche Schritte rückwärts und hebt beschwichtigend die Hände.
»Du sagst keinem was, kapiert!«, zischt Tamara mit kaum verhohlener Wut.
»Nein, natürlich nicht … wenn du nicht willst …«
»Das will ich nicht, nein!« Sie nimmt etwas vom Arbeitstisch. Daniela kann nicht sehen, was es ist. Mit jedem Schritt, den sie zurückweicht, geht Tamara einen auf sie zu.
»Ich trau dir nicht, hab dir nie getraut.« Tamaras Tonfall ist schneidend. »Glaub bloß nicht, ich würde dich nicht durchschauen. Du
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