Was sie nicht weiss
Fischchen an meinen Füßen rumknabbern zu lassen, das ist nichts für mich. Sei bitte nicht böse.«
Es tut Lois wirklich leid, ihre Schwester enttäuschen zu müssen, aber so etwas geht ihr einfach zu weit. Tessas resigniertem Gesichtsausdruck ist jedoch zu entnehmen, dass sie mit solch einer Reaktion durchaus gerechnet hat.
»Wie wäre es, wenn du mit … wie heißt sie doch gleich … mit Jacqueline hinfährst?«, schlägt sie vor.
»Das mache ich auch. Ich wollte nur dich zuerst fragen. Aber egal. Für uns beide denke ich mir eben was anderes aus.«
Tessa schenkt sich Prosecco und Lois Wasser nach, dann nehmen sie vom Toast und von der Tapenade. Nach ein paar belanglosen Sätzen tritt eine längere Stille ein, die aber einvernehmlich und keineswegs gezwungen ist. Warum sie ge rade jetzt in diesem Moment darauf kommt, weiß Lois nicht. Der Gedanke hat sie schon lange beschäftigt, und nun will sie ihn aussprechen. Vielleicht weil sie und Tessa endlich wie der einmal in Ruhe und vertraut zusammensitzen. »Manchmal denke ich, Mama ist absichtlich gegen den Pfeiler des Viadukts gefahren«, sagt sie leise.
Tessa schaut sie mit einem langen, unergründlichen Blick an, und als sie endlich etwas sagt, klingt ihre Stimme belegt: »Das glaube ich auch.«
»Wirklich?«
»Es liegt doch auf der Hand. Sie war so selten mit dem Auto unterwegs, und auf einmal fährt sie los, ohne jemandem zu sagen wohin. Und genau an dem Tag passiert ein Unfall. Verwunderlich ist das zwar nicht, wenn man schon am Vormittag eine ganze Flasche Wein intus hat, aber trotzdem. Sie hätte ja auch einfach nur die Leitplanken streifen können, und es gab auch keine anderen Beteiligten. Mir war sofort klar, dass sie bewusst zu diesem Viadukt gefahren ist, und genau zu einem Zeitpunkt, als nicht viel los war, kurz vor Mittag, also nicht im Berufsverkehr.« Mit gesenktem Blick nippt Tessa an ihrem Glas.
»Warum hast du nie mit mir darüber geredet?«
»Es gibt Sachen, die spricht man lieber nicht aus. Und eigentlich wollte ich es auch nicht wahrhaben. Allein die Vorstellung, dass sie lieber sterben wollte, als bei uns zu bleiben, dass sie den Tod vorzog …«
»Du meinst, dass wir für sie kein Grund zum Weiterleben waren«, sagt Lois. »Ja, darüber habe ich auch oft und lange nachgedacht.«
»Für mich ist es immer noch schrecklich. Schließlich waren wir doch ihre Töchter!«
Spontan greift Lois über den Tisch hinweg nach der Hand ihrer Schwester.
»Sie hat so viel verloren, Tessa, das können wir uns kaum vorstellen. Der Tod eines Kindes ist für eine Mutter das Allerschlimmste. Und dann auch noch Papa … er war ihre Jugendliebe, und als er uns verlassen hat, sah sie überhaupt keine Zukunft mehr.«
»Das werd ich ihm auch nie verzeihen«, sagt Tessa bitter. »Nicht mal zu ihrem Begräbnis war er da, der Arsch!«
Minutenlang hängt jede ihren eigenen Gedanken und Erinnerungen nach, bis Tessa sich räuspert. »Dabei sollte es ein gemütlicher Nachmittag werden«, sagt sie.
»Ich bin sehr froh, dass wir darüber gesprochen haben«, entgegnet Lois.
»Ich auch. Zumal ich mich so manches Mal gefragt habe, wie du damit umgehst. Mir kam es vor, als würde dich das alles nicht mehr belasten, als hättest du es hinter dir gelassen.«
»Umgekehrt war es genauso. Anscheinend sind wir uns doch ähnlicher als gedacht«, meint Lois lächelnd. »Ich hatte immer den Eindruck, du versteckst dich hier in der großen Villa und hinter Guidos breitem Rücken, gehst den Herausforderungen des Lebens aus dem Weg und beschäftigst dich nur mit oberflächlichem Kram.«
»Ja, gib’s mir nur tüchtig«, sagt Tessa mit einem halben Lachen. »Dafür schenke ich dir jetzt ein Glas Prosecco ein, und du versprichst, nicht mehr so fanatisch Sport zu treiben.«
»Ich muss noch fahren.«
»Ein Glas ist immer drin, außerdem kannst du gern hier übernachten. Dann haben wir noch den ganzen Abend für uns.«
»Willst du denn wirklich nie Kinder haben?«, fragt Lois, ohne auf Tessas Angebot einzugehen. »Vielleicht enthältst du dir etwas vor, was dich glücklich machen würde.«
»Mag sein, dass du recht hast. Aber wir haben doch erlebt, was der Verlust eines Kindes bedeuten kann. Wie könnte ich da das Risiko eingehen?«
32
Als Lois auf dem Nachhauseweg über das Gespräch mit Tessa nachdenkt, klingelt ihr Handy. Sie fährt an den Straßenrand, hält an und meldet sich.
»Ich bin’s: Fred. Komm so schnell wie möglich zu Maaike Scholtens Wohnung. Daniela
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