Was sie nicht weiss
war. Sie wollte schlicht ein neues Leben mit ihrem italienischen Liebhaber beginnen, den sie im Urlaub kennengelernt hatte.
»Dass es Täter gibt, die Krankheiten oder Störungen vortäuschen, schließt ja nicht aus, dass andere an so etwas leiden und Verbrechen begehen, an die sie keine Erinnerung haben«, entgegnet Lois. »Ich stelle mir die ganze Zeit vor, wie Maaike sich fühlt, seit sie ahnt, was ihr zweites Ich angerichtet hat. Mir tut sie unendlich leid, denn so was ist mehr als tragisch.«
»Tragisch oder nicht, wir müssen sie schnellstens fassen. Und falls sie tatsächlich nur Ahnungen hat, ist das für uns von Vorteil. Den ersten Fehler hat sie ja bereits gemacht.«
»Durch ihren Anruf bei Daniela.«
»Richtig. Obwohl das auch ein Trick sein kann, um uns vorzumachen, sie wüsste nichts vom Tod ihrer Freundin. Wie auch immer, erst einmal müssen wir sie haben. Ich bin jedenfalls gespannt, was die anderen nachher zu deinem Bericht meinen.«
Im Büro sind inzwischen alle Arbeitsplätze belegt, es riecht nach Kaffee und mitgebrachten Frühstücksbroten.
»Schlecht geschlafen?« Fred, der selbst auch nicht gerade taufrisch wirkt, mustert sie besorgt.
»Ich war gestern Abend in Overveen, um mit einem Psychiater zu sprechen«, sagt sie. »Er ist Guidos Cousin, ich hab ihn bei der Geburtstagsfeier kennengelernt.«
»Und konnte er dir was über diese Dingens-Störung sagen?«
»Dissoziative Identitätsstörung«, verbessert Lois. »Ja, er hat mir eine ganze Menge darüber erzählt. Ich darf nachher berichten.« Sie zieht eine Grimasse.
»So was kannst du doch.«
Klar kann sie das, aber darum geht es nicht. Nach einem einzigen Gespräch mit einem Psychiater und ein paar Stunden Lektüre ist sie noch längst keine Expertin. Bestimmt reagieren die Kollegen skeptisch.
Und so kommt es auch. Trotz der vornehmlich amüsierten und kritischen Mienen um sie herum redet sie unbeirrt weiter. Als sie geendet hat, setzt sie sich.
Ramon ergreift das Wort: »Ihr habt gehört, was Lois in Erfahrung gebracht hat. Damit ist zwar noch nicht gesagt, dass unsere Verdächtige tatsächlich an dieser Störung leidet, aber die Möglichkeit besteht, und wir müssen bei der Festnahme darauf eingestellt sein.« Er spricht noch kurz über den Anruf auf Danielas Handy und das weitere Vorgehen, dann schließt er die Sitzung.
Gegen Mittag reißt Ramon die Tür auf und stürmt mit großen Schritten ins Büro.
»Eine gute Nachricht, Leute! Das Telefon der Scholten ist eingeschaltet. Die Signale gehen an einen Sendemast im Zentrum von Amsterdam.«
»Wo ungefähr?«, fragt Nick.
»Nicht weit vom Nieuwmarkt, eventuell Zeedijk. Kennst du dich dort aus?«
»Im Rotlichtviertel kennt Nick sich bestens aus«, sagt Lois.
Sogar Ramon stimmt in das allgemeine Gelächter ein – nun, da der Fall, der sie seit Wochen in Atem hält, vermutlich bald gelöst ist, wirkt er entspannter.
»Silvan, setz dich mit dem Revier Beursstraat in Amsterdam in Verbindung«, sagt er. »Es könnte gut sein, dass wir nachher vor Ort Verstärkung brauchen. Fred, Lois und Jessica, ihr ruft sämtliche Hotels und Pensionen in der fraglichen Gegend an, Nick und Claudien erkundigen sich bei allen Amsterdamer Parkhäusern nach dem weißen Opel Corsa.«
Noch ehe die Aufgaben ganz verteilt sind, machen sich die Kollegen an die Arbeit. Danielas Auto ist rasch gefunden: Es steht in einem Parkhaus am Stadtrand.
»Dort hat sie es abgestellt und muss die Straßenbahn oder den Bus genommen haben«, sagt Lois. »Hätte sie nicht telefoniert, wäre es verdammt schwierig gewesen, sie auszumachen.«
Sie wählt die Nummer des nächsten Hotels. Wider besseres Wissen hat sie es zunächst bei den größeren versucht – in keinem ist eine Frau namens Maaike oder Tamara abgestiegen, und niemand hat sie auf dem Foto aus Danielas Handy erkannt, das sie hingemailt haben.
»Wenn sie ein Hotelzimmer genommen hat, müssten wir sie längst haben«, sagt Fred nach einem weiteren erfolglosen Telefonat. »Vielleicht hat sie Bekannte in der Gegend, bei denen sie sich aufhält, oder …«
Mitten in seinen Satz hinein ertönt Jessicas Triumphschrei: »Wir haben sie! Gerade hat eine Pension am Zeedijk bestätigt, dass sie dort wohnt.«
42
Etwas stimmt nicht. Kaum hat Tamara das Haus betreten, überkommt sie ein mulmiges Gefühl. Zwei Plastiktüten mit Einkäufen in den Händen, bleibt sie stehen und sieht sich in dem leicht schmuddeligen Vorraum um. Ramona de Bont, die Pensionswirtin, steht
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