Was - Waere - Wenn
ich arbeiten, aber leider bin ich nur noch
unbrauchbarer Restmüll. Bleibe ich jetzt einfach so bis morgen liegen? Oder
sogar bis an mein Lebensende? Vielleicht habe ich Glück, und es dauert damit
gar nicht mehr so lange. Nein, ich muß aufstehen. Heute ist Donnerstag, das ist
immer einer der schlimmsten Tage im Drinks & More. Wenn ich nicht
auftauche, erledigt Tim das mit meinem Lebensende.
Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, robbe mich langsam und
vorsichtig auf dem Rücken bis an den Rand meines Bettes, schiebe ein Bein unter
der Bettdecke hervor und stelle meinen rechten Fuß auf den Boden. Als er
Erdkontakt hat, ziehe ich das linke Bein nach. Noch dreht sich nichts, also
weiter. Ich schlage die Decke ganz zurück, greife mit einer Hand unters Bett
und ziehe mich hoch. Ich sitze.
Dreißig Sekunden später stehe ich. Das alles strengt mich so sehr
an, daß mir der Schweiß ausbricht, ich bin wirklich in einem mehr als desolaten
Zustand. Zuerst mache ich den CD -Player aus. Das
ist kein Morgen für Disney. Heute ist ein Morgen für Aimee Mann, ein Morgen, an
dem mir meine ganze Jämmerlichkeit klar wird. Ich greife nach dem Catsuit,
halte ihn mir vors Gesicht und schnüffele daran. Riecht nach Rauch und Alkohol
und gestern, dünstet alle widerlichen Erinnerungen aus. Am liebsten würde ich
ihn in Stücke reißen, zerschneiden, verbrennen oder wenigstens wegwerfen.
Spurenbeseitigung.
Statt dessen gehe ich ins Badezimmer und stopfe ihn zusammen mit der
Unterwäsche, die ich gestern getragen habe, in die Waschmaschine und stelle
sofort das allerlängste Programm ein. Als ich die Maschine anschalten will,
fällt mir noch etwas ein: Ich gehe zurück ins Schlafzimmer, ziehe das Bett ab
und stopfe die Bezüge mit in die Maschine. Dann noch mein Schlafshirt dazu,
statt dessen ziehe ich einen Jogginganzug an. Aus dem Flur hole ich meinen
Mantel, der muß auch in die Trommel. Ich will das alles sauber haben, die
Sachen sind von der Gestern-Charly kontaminiert. Während die Waschmaschine
losrumpelt, reiße ich alle Fenster auf, gehe mit dem Staubsauger durch die
Wohnung, poliere die Stiefel, die ich zu dem Anzug anhatte, auf Hochglanz. Dann
noch neue Bettwäsche, ganz frische, weiße Bezüge, die hab ich am liebsten.
Eine halbe Stunde später ist alles sauber – aber der größte Posten
fehlt noch: Ich selbst. Ich stelle mich unter die heiße Dusche, wasche alles
ab, schrubbe zwanzig Minuten lang all den schmierigen Seelendreck runter,
bürste meine Haut so lange mit einem groben Schwamm, bis sie ganz rot ist. Am
liebsten würde ich raus aus meinem Körper, raus aus mir selbst. So habe ich
mich noch nicht mal nach einem mißlungenen One-Night-Stand gefühlt. Während das
Wasser über meinen Körper rinnt, fällt mir wieder alles ein.
Moritz. Und Isabell. Und mein Auftritt beim Klassentreffen. Mir wird
heiß und kalt, regelrechte Wechselbäder. Nicht dran denken. Nicht dran denken!
Aber es geht nicht, der Film läuft weiter. Wie mich alle angeguckt haben, wie
sie getuschelt haben, wie wütend und laut und betrunken ich war. Ein Glück, daß
Tim gekommen ist. Was wäre sonst wohl noch passiert?
Er hat mich nach Hause gebracht. Hat mich ausgezogen, ins Bett
gelegt und zugedeckt. Hat er doch, oder? Hier kann ich mich nicht mehr genau
erinnern, alles ist so verschwommen. Das letzte Stück fehlt, ich kriege es
nicht mehr zusammen. Wer hat den CD -Player
angestellt? Er oder ich? Jetzt will ich mich erinnern, ich will nicht, daß mir
ein Stück fehlt. Ich weiß es: Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich
schrubbe noch fester mit dem Schwamm über meine Haut, wieder laufen mir die
Tränen herunter. Ich bin so klein und mickrig und gedemütigt. Sie haben es wieder geschafft, daß ich mich so fühle, und sie wissen es jetzt auch alle. Alle haben gesehen, daß
Charly Maybach sich nicht im Griff hat. Na und? sagt eine Stimme in mir. Du
sagst doch immer, daß dir egal ist, was alle anderen denken. Richtig, antworte
ich mir. Das sage ich immer. Aber leider stimmt es nicht.
Um halb sieben steige ich auf mein Mountainbike, um zur Arbeit zu
fahren. Ich komme fast vier Stunden zu spät, das ist echter Rekord. Aber Tim
weiß ja, in welchem Zustand ich bin. In solchen Momenten ist es gut, wenn der
Chef auch ein Freund ist. Ich atme tief durch, setze den Kopfhörer auf und
drücke auf Play: Aimee Manns »One«. Manche Situationen nimmt man am besten mit
einem Schuß Ironie. Mit etwas Glück kann man dann vielleicht sogar
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