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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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nicht so grausam gemeint hast, wie es am Dienstag schien?« – das war das erste; das andere war ein wenig länger. »Wenn ich am Dienstag unvernünftig oder argwöhnisch war – wenn ich dich auf irgendeine Weise geärgert oder belästigt habe – so bitte ich dich um Verzeihung, und ich verspreche dir, niemals wieder so töricht zu sein. Ich bin genug gestraft, und ich kann nichts verstehen. Lieber Morris, du bringst mich um!« Diese Briefchen gingen am Freitag und Samstag ab; doch Samstag und Sonntag verstrichen, ohne dem armen Mädchen die ersehnte Befriedigung zu bringen. Catherines Heimsuchung wuchs sich immer mehr aus; doch sie trug sie weiterhin mit viel Gleichmut nach außen hin. Am Samstagvormittag sprach der Doktor, der stillschweigend beobachtet hatte, mit seiner Schwester Lavinia.
    »Jetzt ist’s passiert – der Gauner hat sich aus dem Staub gemacht!«
    »Niemals!« rief Mrs. Penniman, die sich überlegt hatte, was sie Catherine sagen solle, aber keine Verteidigungslinie ihrem Bruder gegenüber aufgebaut hatte, so daß entrüstetes Ableugnen die einzige Waffe war, die sie in der Hand hatte.
    »Dann hat er also um eine Gnadenfrist gebeten, wenn dir das lieber ist!«
    »Es scheint dich äußerst glücklich zu machen, daß mit den Gefühlen deiner Tochter gespielt worden ist.«
    »So ist es«, sagte der Doktor, »denn ich hatte es vorhergesagt! Es macht großes Vergnügen, recht zu haben.«
    »Deine Vergnügen lassen einen erschauern!« rief seine Schwester aus.
    Catherine ging unerschütterlich ihren gewohnten Beschäftigungen |239| nach; das heißt, bis auf den Kirchgang mit ihrer Tante am Sonntagvormittag. Für gewöhnlich besuchte sie außerdem auch den Nachmittagsgottesdienst; aber diesmal brachte sie den Mut dazu nicht auf, und sie bat Mrs. Penniman, ohne sie zu gehen.
    »Ich bin überzeugt, daß du ein Geheimnis hast«, erklärte Mrs. Penniman höchst vielsagend und sah sie ziemlich streng an.
    »Wenn ich eines habe, werde ich es für mich behalten«, erwiderte Catherine und ging weg.
    Mrs. Penniman schlug den Weg zur Kirche ein; aber noch bevor sie dort ankam, blieb sie stehen und kehrte um, und ehe zwanzig Minuten vergangen waren, betrat sie wieder das Haus, sah in die leeren Salons, ging nach oben und klopfte an Catherines Tür. Sie bekam keine Antwort; Catherine war nicht in ihrem Zimmer, und Mrs. Penniman fand alsbald heraus, daß sie nicht im Haus war. »Sie ist zu ihm gegangen! Sie ist geflohen!« rief Lavinia und faltete vor Bewunderung und Neid die Hände. Aber bald stellte sie fest, daß Catherine nichts mitgenommen hatte – alle ihre eigenen Sachen in ihrem Zimmer waren unberührt – da brachte sie ein Gedankensprung zu der Annahme, das Mädchen sei nicht aus zärtlicher Zuneigung, sondern aus Verdruß fortgegangen. »Sie hat ihn bis vor seine Tür verfolgt! Sie hat ihn in seiner Wohnung überfallen!« In diesen Ausdrücken malte sich Mrs. Penniman das Verschwinden ihrer Nichte aus, das, in diesem Licht gesehen, ihren Sinn für das Malerische nur um eine Spur weniger befriedigte als die Vorstellung einer heimlichen Hochzeit. Den Liebhaber unter Tränen und Vorwürfen in seinen eigenen Gemächern aufzusuchen, war nach Mrs. Pennimans Überzeugung ein so angenehmes Bild, daß sie eine Art ästhetischer |240| Enttäuschung empfand, daß es in diesem Fall an der harmonischen Begleitung durch Finsternis und Unwetter mangelte. Ein ruhiger Sonntagnachmittag schien die unangemessene Szenerie dafür zu sein; und Mrs. Penniman war in der Tat höchst ungehalten über die Voraussetzungen der Zeit, die gar so langsam verging, als sie, mit Hut und Kaschmirschal angetan, im vorderen Salon saß und auf Catherines Rückkehr wartete.
    Endlich erfolgte dieses Ereignis. Sie sah – vom Fenster aus – Catherine die Stufen heraufsteigen und ging, um sie zu erwarten, in die Eingangshalle, wo sie sich auf ihre Nichte stürzte, sobald diese das Haus betreten hatte, sie in den Salon zog und feierlich die Tür schloß. Catherines Gesicht war gerötet und ihre Augen glänzten. Mrs. Penniman wußte kaum, was sie denken sollte.
    »Darf ich’s wagen, mich zu erkundigen, wo du warst?« fragte sie.
    »Ich habe einen Spaziergang gemacht«, sagte Catherine. »Ich dachte, du seist in die Kirche gegangen.«
    »Ich war ja auch in der Kirche; aber der Gottesdienst war kürzer als gewöhnlich. Und wo, bitte sehr, warst du denn spazieren?«
    »Ich weiß nicht!« sagte Catherine.
    »Deine Unkenntnis ist höchst seltsam!

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