Washington Square
an Takt darauf, sie in Ruhe zu lassen. In Wirklichkeit war ein Verdacht in ihr aufgestiegen, und sie gab dem für einen ängstlichen Menschen nur zu natürlichen Wunsch nach, die Explosion möge doch örtlich begrenzt sein. Solange die Luft noch vibrierte, hielt sie sich fern.
Im Lauf des Abends schlich sie mehrere Male vor Catherines Tür hin und her, als erwarte sie, ein klagendes Stöhnen dahinter zu vernehmen. Doch es blieb völlig still im Zimmer; und folglich bat sie als letztes, bevor sie sich zur Ruhe begab, hereinkommen zu dürfen. Catherine war noch auf, sie hatte ein Buch in der Hand und tat, als ob sie darin lesen würde. Sie wollte nicht zu Bett gehen, da sie nicht erwarten konnte, Schlaf zu finden. Nachdem Mrs. Penniman gegangen war – sie hatte ihr keine Veranlassung zum Bleiben geboten –, war sie noch die halbe Nacht aufgeblieben. Ihre Tante stahl sich nun ganz leise herein und näherte sich ihr mit gemessenem Ernst.
»Ich fürchte, du hast Kummer, meine Liebe. Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«
|236| »Ich habe keinerlei Kummer und brauche keine Hilfe«, schwindelte Catherine rundweg, womit sie bewies, daß nicht nur unsere Verfehlungen, sondern auch von uns völlig unbeabsichtigte Mißgeschicke dazu führen können, unsere Moral zu untergraben.
»Ist dir nichts passiert?«
»Gar nichts.«
»Bist du ganz sicher, Liebe?«
»Völlig sicher.«
»Und kann ich denn wirklich nichts für dich tun?«
»Nichts, Tante, aber sei so nett und laß mich allein«, sagte Catherine.
Wiewohl Mrs. Penniman zuvor einen allzu hitzigen Empfang befürchtet hatte, war sie nun enttäuscht von einem so frostigen; und wenn sie später zahlreichen Leuten, mit beträchtlichen Abwandlungen der Einzelheiten, die Geschichte von der Auflösung der Verlobung ihrer Nichte erzählte, lag ihr besonders daran zu erwähnen, daß die junge Dame sie bei einer bestimmten Gelegenheit aus dem Zimmer »hinausbefördert« habe. Es war für Mrs. Penniman bezeichnend, daß sie diesen Umstand nicht im geringsten aus Böswilligkeit gegenüber Catherine erzählte, die sie hinreichend bedauerte, sondern ganz einfach aus einer ursprünglichen Veranlagung, jedes Thema, mit dem sie sich befaßte, auszuschmücken.
Catherine blieb, wie ich bereits sagte, die halbe Nacht auf, als erwarte sie noch immer, Morris Townsend an der Tür klingeln zu hören. Am nächsten Morgen war diese Erwartung etwas weniger unsinnig; aber sie wurde nicht durch das neuerliche Erscheinen des jungen Mannes belohnt. Er hatte auch nicht geschrieben; kein Wort der Erklärung oder der erneuten Versicherung erfolgte. Glücklicherweise konnte Catherine vor ihrer jetzt heftiger |237| gewordenen Erregung Zuflucht finden in ihrem Entschluß, ihr Vater solle nichts davon merken. Wie weit sie ihren Vater täuschte, werden wir bei Gelegenheit noch erfahren; doch ihre unschuldigen Künste halfen nur wenig gegenüber einem Menschen von dem ungewöhnlichen Scharfblick Mrs. Pennimans. Diese Dame erspähte unschwer, daß Catherine erregt war, und wenn irgend etwas Erregendes vor sich ging, war Mrs. Penniman nicht die Person, sich den ihr entsprechenden Anteil daran entgehen zu lassen. Am folgenden Abend suchte sie aufs neue ihren Schützling auf und bat ihre Nichte, sich ihr anzuvertrauen – ihr das Herz auszuschütten. Vielleicht sei sie imstande, gewisse Dinge aufzuklären, die jetzt noch unverständlich schienen und über die sie mehr wisse, als Catherine glaube. Wenn Catherine am Abend zuvor frostig gewesen war, so gab sie sich heute überheblich.
»Du bist völlig im Irrtum, und ich habe nicht die geringste Ahnung, was du meinst. Ich weiß nicht, was du mir andichten willst, und nie im Leben habe ich weniger Bedarf an Erklärungen von irgend jemandem gehabt.«
Auf diese Weise machte sich Catherine von ihrer Tante los und hielt sie Stunde um Stunde in Schach. Doch von Stunde zu Stunde nahm Mrs. Pennimans Neugierde zu. Sie hätte ihren kleinen Finger dafür gegeben, um zu erfahren, was Morris gesagt und getan hatte, welchen Ton er angeschlagen und welche Ausflucht er ersonnen hatte. Natürlich schrieb sie ihm und bat um eine Unterredung; aber ebenso natürlich erhielt sie keine Antwort auf ihr Ersuchen. Morris war nicht in der Stimmung zu schreiben; denn auch Catherine hatte ihm zwei Briefchen geschrieben, die ohne Erwiderung blieben. Diese Briefchen waren so knapp, daß ich sie vollständig wiedergeben |238| kann. »Willst du mir nicht ein Zeichen geben, daß du es
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