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Wassermanns Zorn (German Edition)

Wassermanns Zorn (German Edition)

Titel: Wassermanns Zorn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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machten ihm keine Angst. In all den Sommern, die er am Gorreg verbracht hatte, hatte er noch keinen Blitz in den See einschlagen sehen. Sogar das Wetter schien sich vor dessen Kälte und Tiefe zu fürchten.
Am Ufer watete er durch einen dichten Schilfgürtel und versank dabei bis über die Knöchel im matschigen Grund. Der Schlick schien an ihm zu ziehen und zu zerren, so als wolle er ihn nicht entkommen lassen. Der starke Regen hüllte ihn wie ein Vorhang ein, ließ ihn unsichtbar werden für den Rest der Welt. Er ließ den Schilfgürtel hinter sich und tauchte in den Wald ein.
Unter dem hohen Dach der Kiefern und Fichten verwandelten sich die harten Regentropfen in einen Sprühnebel. Er ließ sich zu Boden sacken und lehnte sich mit dem nackten Rücken gegen die harte, rissige Borke eines Baumes. Er starrte gegen die grüne Wand des Schilfgürtels und dachte und fühlte eine Zeit lang nichts. Aber dann kroch die Kälte in seinen Körper, und er begann zu zittern. Das Gewitter hatte innerhalb kürzester Zeit die Luft um mindestens fünfzehn Grad abgekühlt.
Seine Zähne klapperten.
Ob Siiri jetzt auch fror? Er versuchte sich vorzustellen, wie es dort unten war, an diesem Ort, wohin kein Licht mehr gelangte. Bestimmt hatte sie Angst. Bestimmt war ihr noch viel kälter als ihm.
Er weinte um seine Schwester. Unter Wasser war sie wirklich wie ein Delfin gewesen. Ihre Haut hatte sich vollkommen glatt und makellos angefühlt. Wenn er sie doch nur noch einmal spüren dürfte, ein einziges Mal noch, dann wäre er schon zufrieden. Das Gefühl würde die Angst und die entsetzliche Kälte aus seinem Inneren vertreiben.
Alles in ihm drängte danach, aufzustehen, ins Wasser zu gehen und nach seiner kleinen Schwester zu suchen. Aber er blieb sitzen, seine Muskeln wollten ihm nicht gehorchen. Nur in seiner Vorstellung stand er auf, durchdrang den Schilfgürtel und watete ins Wasser zurück.
Es empfing ihn mit offenen Armen und einem kühlen Kuss, und sobald er völlig darin eingetaucht war, fühlte er sich wohl und geborgen. Die Tränen versiegten, voller Freude machte er sich auf die Suche nach seiner kleinen Schwester.
Einmal noch wollte er mit ihr tanzen, ihr ekstatisches Zucken spüren.

    Die Sehnsucht nach glatter, makelloser Haut, nach dem Tanz unter Wasser, hatte ihn nie wieder losgelassen. Nach ihrer Rückkehr in ihre finnische Heimat war er ihr allzu oft erlegen. Deshalb hatte er schließlich flüchten müssen.
    Weil er nicht an den Gorreg zurückgekonnt hatte, war er durch die Touristenhochburgen am Mittelmeer getingelt. Nie war er länger als ein paar Monate irgendwo geblieben, nirgends war er aufgefallen. Badeunfälle passierten schließlich häufiger. Das hätte noch Jahre so weitergehen können.
    Aber der Wunsch nach Rache hatte immer in ihm geschlummert. Immer wieder hatte er daran denken müssen, was Stiffler ihm und seiner Familie angetan hatte. Er durfte einfach nicht ungeschoren davonkommen. Und wenn er sein Leben dafür geben müsste: Siiris Andenken musste reingewaschen werden. So rein, wie seine Liebe zu ihr war. Auch heute noch, nach all den Jahren. Und so war er nach Deutschland zurückgekehrt, an seinen geliebten Gorreg. Die großen, offenen Poren des Holzes im Haus waren getränkt von Siiri. Sie hatte diesen Ort noch mehr geliebt als er.
    Er erinnerte sich an etwas, was sie während einer langen Autofahrt gesagt hatte. Der ewige finnische Winter hatte hinter ihnen gelegen, der deutsche Sommer am Gorreg vor ihnen, und sie waren beide aufgeregt und voller Vorfreude gewesen. Mehr als zwei Monate würden sie im Haus im See verbringen, die gesamten Schulferien, und ihre Eltern würden diese Zeit nutzen, um zusätzliches Geld zu verdienen und den Kontakt zur Familie ihrer Mutter, die aus Deutschland kam, nicht zu verlieren. Eine herrliche Zeit voller Freiheit und Unbeschwertheit erwartete sie, alles schien möglich. Sie dachten nicht an ein Später, denn das gab es für sie nicht. Sie dachten nur an Sonne und Wasser und lange Abende auf dem Steg. Sie dachten an Regengeprassel auf dem Holzschindeldach des Hauses und das Plätschern der Wellen an den Eichenpfählen, die es trugen.
    «Ich bin immer am Gorreg, auch wenn ich fort bin», hatte Siiri auf der Rückbank des Autos zu ihm gesagt.
    Es lag Wahrheit in diesen Worten, sie tat ihm weh, und er wollte nicht weiter darüber nachdenken.
    Lieber beschäftigte er sich mit seiner Rache an Stiffler.
    Heute war ein wichtiger Tag. Der wichtigste überhaupt in seinem

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