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Wassermanns Zorn (German Edition)

Wassermanns Zorn (German Edition)

Titel: Wassermanns Zorn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Sorgen. Haben Sie Zeit? Können Sie mit mir zusammen diesen Taxifahrer besuchen?»
    Holger Kraul zuckte mit den breiten Schultern.
    «Kein Problem. Ich gebe es nur schnell an die Zentrale durch.»

20
    Lavinia krabbelte auf Händen und Knien durch die Dunkelheit. Sie stieß an eine Wand, tastete sich daran empor und zuckte zusammen. Sie hatte sich einen Splitter in den rechten Zeigefinger gerissen. Sie steckte die Kuppe in den Mund und saugte daran. Irgendwie hatte der süßliche Geschmack ihres Blutes etwas Tröstliches. Es schmeckte wenigstens lebendig.
    Ihre Beine zitterten, sie musste sich an der Wand abstützen, um aufzustehen. Erneut schoss ein dumpfer Schmerz durch ihren Kopf, und ihr wurde schlecht. Das waren die Symptome einer Gehirnerschütterung, das wusste sie, aber sollte sie sich deswegen in ihr Schicksal ergeben? Nein, das kam gar nicht in Frage.
    Sie begann, die Wand abzutasten. Sie bestand aus dem gleichen Holz wie der Boden, war aber nicht so feucht, sondern trocken und rissig. Sie konnte Spalten ertasten, und an ein paar Stellen drang sogar etwas Licht hindurch. Das also waren die kleinen leuchtenden Punkte, die sie nach dem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit gesehen hatte. Lavinia drückte ihr Gesicht an das Holz und versuchte, durch einen Spalt hinauszuschauen, doch das gelang ihr nicht. Zu sehr wurde sie von dem einfallenden Licht geblendet.
    Das Holz war nicht nur angenehm warm, es hatte auch einen eigentümlichen Geruch, den Lavinia von irgendwoher kannte. Vor dem Haus auf dem Lande, in dem sie bis zu ihrem sechsten Lebensjahr gelebt hatten, hatte ein Strommast aus Holz gestanden. Dieser Mast war mit einer dickflüssigen schwarzen Farbe getränkt gewesen, die aus dem Holz herausquoll, wenn es im Sommer richtig heiß wurde. Dann hatte dieser Mast einen intensiven Geruch ausgeströmt, der Bienen und Ameisen anzog. Sie waren in der klebrigen Masse hängen geblieben, und Lavinia hatte Stunden damit zugebracht, sie zu befreien, ohne wirklich alle retten zu können.
    Wer würde sie retten?
    Wer würde nach ihr suchen?
    Lavinia presste ihren Rücken gegen die Wand und tastete sich in der Dunkelheit nach rechts. Sie kam nur vier Schritte weit, dann stieß sie an die nächste Wand. Diese Prozedur wiederholte sie, bis sie die Maße des Raumes, in dem sie gefangen gehalten wurde, erkundet hatte. Drei mal drei Meter, in der Höhe kaum mehr als eins achtzig, denn sie konnte dicht über sich die massive Holzdecke spüren.
    Sie war von Holz umgeben.
    Wie in einem Sarg.
    Mit dem Unterschied, dass es unter ihren Füßen plätscherte.
    Sie musste in einem Bootshaus oder etwas Ähnlichem sein.
    Wasser, Bootshaus, See – es passte alles zusammen.
    Er hatte sie gefunden. Drei Jahre waren vergangen, seit er Susan getötet hatte. Warum kehrte er jetzt zurück? Was hatte sie ihm nur angetan, dass sein Zorn nicht verraucht war?
    Aber das war jetzt nicht wichtig. Sie musste darüber nachdenken, wie sie hier herauskommen konnte. Auf Hilfe durfte sie nicht hoffen. Selbst wenn Frank die Polizei alarmierte – wo sollten die nach ihr suchen? Der Polizist an ihrer Haustür hatte sie gewarnt und ihr zu verstehen gegeben, dass die Polizei auch nicht wusste, wo sich der Täter aufhielt. Er hatte ihr geraten abzuhauen. Nein, nicht nur geraten. Sein Tonfall war gebieterisch gewesen und respektlos. Er hatte sie wie eine Nutte behandelt. Diesen Ton erkannte sie sofort wieder. Er schien eine Polizistenspezialität zu sein. Damals, unmittelbar nach Susans Tod, hatte sie sich sehr darüber geärgert, wie der Bulle, der die Ermittlungen leitete, sie behandelt hatte. Von oben herab, na klar, gleichzeitig war er aber auch anzüglich gewesen und hatte auf ihren Schock und ihre Trauer keine Rücksicht genommen. Heute stand sie darüber, es war ihr egal, aber sie wusste auch, dass die Bullen sich nicht viel Mühe geben würden, sie zu finden.
    Nur sie selbst konnte sich helfen.
    Und sie hatte auch schon eine Idee, wie.
    Sie musste ihn provozieren.
    Lavinia begann, mit der rechten Faust gegen die Wand zu schlagen. Das Holz erwies sich als erstaunlich stabil, es zitterte nicht einmal unter ihren Schlägen. Also nahm sie auch noch die andere Faust dazu und begann zu schreien. Sie schrie laut um Hilfe und hörte erst auf, als ihr Hals brannte und ihre Hände taub wurden.
    Dann lauschte sie.
    Und hörte, nein, sie spürte etwas.
    Vibrationen im Holz, hervorgerufen durch Schritte, die sich aus der Entfernung langsam näherten.
    Lavinia hielt den

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