Wassermanns Zorn (German Edition)
Atem an. Eine Hand hatte sie flach gegen die Wand gepresst, um die Vibrationen zu spüren. Sie wurden immer stärker.
Ihr fiel ein, dass sie bei der Erkundung des Raumes keine Tür gefunden hatte. Gab es eine? Er könnte plötzlich neben ihr auftauchen, und sie hatte dann nichts, um sich zu verteidigen. Sie trat von der Wand zurück, drehte sich in der Dunkelheit und versuchte zu ergründen, von woher er sich näherte.
Die Schritte verstummten.
«Sei still», sagte eine gedämpfte Stimme.
«Lass mich raus!», schrie Lavinia.
Die Schritte erklangen erneut. Über ihr. Er war über ihr! Schon quietschten alte Scharniere, und etwas polterte so schwer, dass der Boden erzitterte. Ein Viereck aus Licht fiel von oben in ihr Gefängnis. Staub führte einen irren Tanz darin auf, und langsam schob sich ein Schatten ins Licht.
«Nimm das», sagte er. Seine Hand tauchte am oberen Rand der Luke auf.
Was sie hielt, konnte Lavinia erst erkennen, als sie danach griff.
Es war ihr Handy.
«Nimm es und drück die Wahlwiederholung.»
Lavinia konnte den Mann im Gegenlicht nicht erkennen, nur seine Hand. Sie war schlank und hatte dünne, lange Finger.
«Was soll das?», fragte sie und blieb in sicherer Entfernung zur Hand stehen.
«Dies ist deine einzige Chance, Hilfe zu holen.»
Lavinia trat vor und nahm ihm das Handy ab. Dabei warf sie einen schnellen Blick nach oben, doch das Sonnenlicht blendete sie so stark, dass sie nichts sehen konnte.
«Und wen rufe ich an?»
«Drück die Wahlwiederholung. Beschreib, wo du dich befindest. Und dann bestellst du einen Gruß vom Wassermann. Hast du das verstanden?»
«Ich weiß nicht, was …»
«Hast du das verstanden?!», brüllte er, und Lavinia hätte beinahe vor Schreck das Handy fallen lassen.
«Ja», murmelte sie und drückte die Wahlwiederholung.
Die Mobilnummer, die daraufhin im Display auftauchte, kannte sie nicht.
Sie presste sich das Handy ans Ohr und wich einen Schritt von der Luke zurück. Doch es klingelte und klingelte, und niemand ging ran. Schließlich meldete sich eine weibliche Bandstimme, verriet ihr die Nummer, die sie schon im Display gelesen hatte, und forderte sie auf, auf die Mailbox zu sprechen.
Lavinia beendete die Verbindung.
«Da geht nur die Mailbox ran», sagte sie.
«Was?»
Er klang überrascht und – verunsichert?
«Versuch es noch mal, sofort.»
Sie hatte die Hoffnung schon aufgegeben und erwartete abermals die Mailboxstimme, als doch noch jemand abnahm.
«Ja», krächzte eine Stimme, die kaum nach Mensch klang.
Lavinia war so verdutzt, dass sie zu sprechen vergaß.
«Verdammt, wer ist da?!», brüllte die Stimme.
«Hier … Hier ist Lavinia Wolff. Ich … ich wurde entführt.»
21
Frank Engler wusste, dass es zwei Arten von Hilflosigkeit gab. Die eine machte sich die Wut zum Partner, die andere Verzweiflung. Er hatte schon unter beiden gelitten, deshalb hätte es ihm nicht derart zusetzen dürfen. Aber das tat es. Denn am schlimmsten war es, wenn sich beide Arten miteinander mischten. Dann zerriss es einen von innen heraus und lähmte einen gleichzeitig. Genau so fühlte er sich, als er seine Wohnung endlich erreichte. Jeder Schritt die Treppe hinauf fiel ihm schwer, und als er den Schlüssel ins Türschloss steckte, zitterte seine Hand vor aufgestauter Wut. Er wollte und konnte nicht glauben, dass mitten im dichtbesiedelten, perfekt organisierten und total überwachten Deutschland ein Mensch einfach so verschwand und niemand etwas unternahm.
Er warf die Tür zu. Das Schlüsselbund landete auf der Anrichte.
Sein erster Weg führte ihn in die Küche, wo er die große Schublade aufriss, in der er allen möglichen Krimskrams aufbewahrte. Wegen des heillosen Durcheinanders darin dauerte es eine Weile, bis er die kleine rote Packung mit der weißen Aufschrift fand. Er zog sie hervor und starrte sie an.
Heilsbringer. Ruhigsteller. Menschenveränderer.
Er hasste Tabletten, die in die Psyche eingriffen.
Damals, nachdem die Narkolepsie bei ihm diagnostiziert worden und die Sache mit seinem Opa im Wald passiert war, hatten seine Eltern und die Ärzte ihn überredet, es mit einer Medikamententherapie zu probieren. Er hatte sich mit jeder einzelnen Pille dafür bestraft, dass er seinem Opa nicht geholfen hatte. Kein halbes Jahr später hatte er fünfzehn Kilo zugenommen, ein weiteres Jahr später knapp dreißig Kilo. Er hatte noch eine ganze Weile durchgehalten und die Pillen brav geschluckt. Immerhin hatte er den Medikamenten seinen
Weitere Kostenlose Bücher