Wassermanns Zorn (German Edition)
Eric wünschte sich, er hätte die Kraft aufgebracht, sich eine Kugel in den verdammten Schädel zu jagen.
Zu feige, Stiffler, du bist zu feige …
Annabells Gesicht in dem Treibguthaufen tauchte auf, ihr anklagender Blick.
Warum hast du mir nicht geholfen?
Unvermittelt schossen ihm Tränen in die Augen, und er presste die Knöchel seiner Hände so fest darauf, dass er Sterne sah.
Sie badet, Stiffler … sie badet …
Die Stimmen mussten weg, er hielt das nicht länger aus.
Und den Gestank ertrug er auch nicht länger.
Mühsam kämpfte er sich auf die Ellenbogen hoch und unterdrückte den Würgereflex. Sein Kopf freute sich über die Chance, den Druck noch steigern zu können, und machte ausgiebig Gebrauch davon. Zwei Minuten musste er in dieser Position verharren, ehe Eric sich vollständig im Bett aufsetzen konnte. Dann wartete er erneut, bis der Sturm in seinem Inneren sich legte, der Druck in seinem Kopf etwas nachließ und der Pegel in seiner Speiseröhre abfiel.
In dieses Warten hinein klingelte sein Handy.
Es steckte in der Innentasche seiner Wildlederjacke, die er noch immer trug und von der ein Großteil des üblen Gestanks ausging. Die Vorderseite war verdreckt und klebrig, zwischen den Zähnen des Reißverschlusses hingen kleine gelbe Brocken. Die Jacke war im Eimer. Schade, es war sein Lieblingsstück.
Das Klingeln hielt an.
Aber Eric wollte mit niemandem sprechen, nie wieder. Er wartete, bis die Mailbox ansprang, aber der Anrufer sprach nicht darauf. Stattdessen klingelte es wenige Sekunden danach erneut.
Eric wusste, wer da anrief. Zwar kannte er die Nummer im Display nicht, aber das spielte keine Rolle. Es konnte nur der Wassermann sein. Eine neue Nummer, ein neues Handy, ein weiteres Opfer.
Nein, er wollte da nicht drangehen. Trotzdem drückte sein Daumen auf die Empfangstaste.
«Ja.»
Schon dieses eine Wort fiel ihm ungeheuer schwer.
Am anderen Ende herrschte Schweigen.
«Verdammt, wer ist da?»
«Hier … ist Lavinia Wolff … Ich … Ich wurde entführt.»
Eric schloss die Augen. So und nicht anders hatte es kommen müssen. Alles fügte sich nahtlos ineinander.
«Wo sind Sie?», fragte er leise.
«Ich … Ich weiß es nicht. Alles ist aus Holz hier, und ich kann Wasser hören. Bitte, mit wem spreche ich?»
«Polizei», sagte Eric, «ich bin von der Polizei.»
«O bitte, helfen Sie mir! Sie müssen mir helfen. Dieser Mann hat schon einmal versucht, mich zu töten, und er wird es wieder tun, er …»
Sie wurde von einer männlichen Stimme unterbrochen, die dennoch einen weichen Klang hatte und so weit vom Telefon entfernt war, dass Eric nicht verstand, was sie sagte.
«Ich bin im Haus auf dem See», meldete sie sich schließlich wieder. «Und ich bin das nächste Geschenk vom Wassermann.»
Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
23
Während Frank Engler seine Geschichte vor Peter Nielsen in dessen Büro wiederholte, beobachtete Manuela bei ihrem Kollegen die gleiche Reaktion, die sie bei sich selbst festgestellt hatte. Sie konnte nur hoffen, ihre Mimik vorhin besser im Griff gehabt zu haben, denn Peter waren Zweifel und Überraschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Falls Frank Engler es bemerkte, ließ er sich dadurch jedenfalls nicht abhalten, die komplette Geschichte mit allen Details noch einmal zu wiederholen.
Der Mann war Manuela ein Rätsel. Sie hatte schon von Narkolepsie gehört, aber noch nie war ihr jemand begegnet, der darunter litt, deswegen waren ihr die Symptome und das Ausmaß dieser Krankheit nicht geläufig gewesen. Engler schien ein aufrichtiger Typ zu sein, einer von der Sorte, die nichts Böses im Schilde führte und gerne half. Er schien sich wirklich Sorgen um die Frau zu machen und hatte Angst, das sah sie in seinen außergewöhnlichen Augen, in denen sie lesen konnte wie in einem offenen Buch. Dennoch erzählte er nicht die ganze Wahrheit, denn bei den Tabletten hatte er gelogen. Das Präparat wurde nicht gegen Magenschmerzen verschrieben. Es handelte sich dabei um ein starkes Beruhigungsmittel, das wusste sie.
Es gab Passagen in seiner Darstellung, die ihr nicht plausibel erschienen. Warum war Lavinia Wolff gestern ein zweites Mal in sein Taxi gestiegen? Warum war sie zum Flughafen geflüchtet, ihm dann aber in seine Wohnung gefolgt? Verhielt man sich so, wenn man Angst hatte? Sie hätte doch auch selbst zur Polizei gehen können.
Oder war das naiv gedacht? Prostituierte, auch ehemalige, hatten in der Regel kein gutes Verhältnis zur
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