Wassermanns Zorn (German Edition)
Menge.
Hatte der merkwürdige Mann in der Nacht vor seiner Wohnung gelauert? Hatte ihm Lavinia vielleicht sogar die Tür geöffnet? Helmuts Klingeln hatte er ja auch nicht gehört.
Frank stellte den erst halb geleerten Kaffeebecher in die dafür vorgesehene Halterung und fuhr los. Die Karte des Polizisten, der ihn gestern Abend vor Lavinias Haus vernommen hatte, steckte noch im Aschenbecher seines Wagens, daher wusste Frank, an welche Dienststelle er sich wenden musste.
10
Stiffler lebte in einem großen Einfamilienhaus am Ende einer ruhigen Wohnstraße. Nielsen war vorausgefahren und stellte Stifflers Mercedes in der Einfahrt vor der Garage ab. Manuela lenkte Nielsens Toyota an den Bordstein, stellte den Motor ab, öffnete die Tür, stieg aber nicht aus, sondern rief Nielsen zu: «Soll ich helfen?»
Der war gerade ausgestiegen, schüttelte den Kopf und machte eine Handbewegung, die wohl bedeuten sollte, sie solle wieder im Wagen verschwinden.
Manuela war es nur recht. Sie hatte kein Interesse daran, sich noch einmal dem Gestank oder den Beleidigungen Stifflers auszusetzen.
Sie ließ sich in den Sitz fallen und sah aus der klimatisierten, angenehm nach Leder duftenden Hülle des Wagens dabei zu, wie Nielsen dem vollgekotzten und allein nicht gehfähigen Hauptkommissar Stiffler aus seinem Wagen half. Stiffler legte den Arm um den Nacken seines Kollegen und ließ sich beinahe tragen. Sein linker Fuß schleifte über den Boden, der Kopf hing mit dem Kinn auf der Brust. Aus der Entfernung sah er aus wie ein Hautsack ohne Knochen.
Manuela konnte nicht anders: Sie schüttelte den Kopf. Nicht aus Mitleid, sondern vor Abscheu. Vor zwei Tagen war sie einem der erfahrensten Ermittler des Landes vorgestellt worden, jetzt sah sie nur noch einen Säufer und Frauenfeind, der nicht einmal genug Mumm hatte, seinem Leben ein Ende zu machen.
Nielsen lehnte seinen Kollegen neben der Haustür an die Wand, schloss auf und bugsierte ihn hinein.
Manuela entdeckte in der Mittelkonsole einen runden Behälter mit Zahnpflegekaugummis. Sie öffnete den Deckel, nahm zwei heraus und warf sie sich in den Mund. Der frische Geschmack nach Minze war geradezu eine Offenbarung.
Sie betrachtete ein kleines metallenes Motorrad, das an einem Lederbändchen vom Innenspiegel baumelte. Erst jetzt fiel ihr auch der Aufkleber auf der heruntergeklappten Sonnenblende auf. Gott im Himmel fährt ’ne Harley. Nielsen war also ein Motorradfreak. Das passte irgendwie zu ihm. Er hatte so eine raubeinige, kumpelhafte Art. Der Typ Mann, auf den man sich verlassen konnte, wenn es mal hart auf hart kam.
Nielsen kam aus dem Haus und ging quer über den Rasen und eine niedrige Buchsbaumhecke auf seinen Wagen zu. Er ließ die Haustür offen stehen. Hoffentlich brauchte er nicht doch noch ihre Hilfe.
Er kam aber gar nicht an die Beifahrertür, sondern öffnete die Kofferraumklappe des Toyota.
«Alles klar?», fragte Manuela.
«Geht schon», sagte Nielsen kurz angebunden und schlug die Klappe wieder zu.
Dann sah sie ihn mit einer Plastiktüte auf das Haus zugehen und erneut darin verschwinden. Diesmal schloss er die Haustür hinter sich.
Manuela seufzte und stellte das Radio an. Die Wettervorhersage versprach schwere Gewitter im Laufe des Nachmittages oder des Abends. Es klang bedrohlich. Aber was war das schon im Vergleich zu einem Mörder, der seine Opfer unter Wasser zog und ertränkte.
Die Minuten verrannen nur langsam, und Manuela wurde unruhig. Ihre schmalen Finger tanzten auf dem Lenkrad, die Füße tappten den Bassrhythmus eines Liedes, das sie nicht kannte.
Nach zwanzig Minuten kam Nielsen endlich wieder aus dem Haus. Schon als er auf den Wagen zueilte, bemerkte sie sein nasses Haar. Nielsen hatte geduscht. Er trug auch ein anderes T-Shirt. Wahrscheinlich hatte er einiges von der Kotze seines Kollegen abbekommen.
Also war Wechselkleidung in der Plastiktüte gewesen, die er aus dem Kofferraum geholt hatte. Das würde sie sich merken. Wie sie gestern Abend am eigenen Leib erfahren hatte, konnte es nicht schaden, Wechselkleidung dabeizuhaben.
Nielsens Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, und in seinen blauen Augen lag eine glanzlose Härte.
«Geht’s?», fragte Manuela mitleidig.
Er nickte.
«Eric schläft seinen Rausch aus. Aber das wird ein böses Erwachen geben.»
«Und was machen wir jetzt?»
«Wir fahren zum Präsidium. Es gibt einiges zu tun, und wir haben ja auch noch einen Ausfall zu beklagen.»
11
Vor dem
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