Wassermans Roboter
Krankenwagen und in Begleitung zweier Pfleger. Berger leistete keinen Widerstand. Er hatte keine Kraft dazu. Denn das Radio war verschwunden, gleich am nächsten Tag. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen. Auf seine Fragen erhielt er keine Antwort. Alle schienen nur auf Dr. Lennart zu warten, der in Hinkunft alle Fragen Bergers beantworten würde. Für jetzt und für immer. Berger konnte nicht wissen, daß auch nach seinem Fortgang das Radio nicht erwähnt wurde. Die Frau dachte, der Dozent habe es entfernt. Und der Dozent dachte dasselbe von ihr. An Markus dachten sie nicht.
»Was gibt’s heute?« rief Markus und trat ins Haus. Er fragte das jedesmal, wenn er von der Schule heimkam. Der Dozent ärgerte sich deshalb.
»Du scheinst dich überhaupt nur fürs Essen zu interessieren«, schimpfte er oft, »wer als gebildeter Mensch ein Haus betritt, der grüßt einmal – in Variante 2 oder 3, meinetwegen auch in Natursprache; aber mensch grüßt! Wir sind ja schließlich keine Affen … ich möchte bloß wissen, was ihr für Anstandsregeln in der Schule lernt.« Jeden Tag ging das so. Markus war es egal. Es gehörte zu den Eigenheiten in diesem Haushalt, an die er sich gewöhnt hatte. Darüber nachzudenken, brachte nichts. Dem Dozenten war auch anzuhören, daß er es so ernst gar nicht meinte; sonst hätte er die Formel nicht Tag für Tag wiederholt. Es war einfach seine Art zu sagen: »Hallo, Markus, da bist du ja! Wie war’s in der Schule?« Er grüßte so wenig, wie Markus grüßte. Er tat nur so, als ob er sich ärgerte und Markus tat so, als ob er wirklich am Essen interessiert sei. »Grüß euch« zu sagen oder »Guten Tag!« oder so wäre ihnen beiden blöd vorgekommen. Und die Frau sagte dann, es gebe heute das und das, und alle waren zufrieden. Markus dachte an all dies, als er das Haus betrat und niemand antwortete. Sie sagten sich täglich dasselbe, wenn er nach Hause kam, weil es ihre Art war, sich zu freuen, daß alle beieinander und keine Unannehmlichkeiten vorgefallen waren. Das mußte es sein. Er konnte sich nicht erinnern, jemals allein gewesen zu sein – am frühen Nachmittag, wenn er nach Hause kam. Sie warteten auf ihn mit dem Essen. So war es immer, und heute war es nicht so. Der Dozent schimpfte nicht über seine Manieren, und die Frau gab keine Antwort auf seine Frage. Es konnte nicht sein, daß sie ihn nicht gehört hatten. Sie hätten ihn gehört, aber sie waren nicht da; alle beide nicht. Markus wußte es sofort, er brauchte nicht das ganze Haus nach ihnen abzusuchen. Dennoch ging er durch alle Räume, auch in den Keller. Sinnlos war das. Er wußte ja, daß er sie nicht finden konnte. Er tat es trotzdem und konnte sich keine Rechenschaft darüber geben; und daß er so etwas Sinnloses tat, beunruhigte ihn; mehr als das Nicht-Vorhandensein der Eltern. Es war unerklärlich, das Nicht-Vorhandensein wie das sinnlose Suchen.
Er ging in den Wintergarten und setzte sich in einen der Korbstühle. Schön war es hier; schön, aber irgendwie nicht richtig. Draußen schien die Sonne. Es war viel zu hell im Glashaus. In dieser Jahreszeit hätte sich bei Sonnenschein das Außenrolleau absenken sollen. Automatisch, um Überhitzung zu vermeiden. Die Steuerung muß kaputt sein, dachte er, vielleicht sind sie zu Jimmy gegangen, daß er’s reparieren soll. Eine ganze Weile dachte er das, bis ihm auffiel, wie absurd die Annahme war, seine Eltern würden sich beide außer Haus begeben, Jimmy zu holen, ausgerechnet Jimmy, den sie jederzeit auf dem Screen erreichen konnten. Er sprang auf und lief hinein. Das mußte es sein: der Screen war auch kaputt, die ganze Com-Anlage. Er schaltete ein. Das Ding schien in Ordnung. Alle Kanäle zeigten das normale Einschaltbild. Er wählte das Nachbarschaftsvideo und ging in die Küche. Er merkte jetzt, daß er Angst hatte. Er merkte auch, daß er diese Angst schon beim Betreten des Hauses gehabt hatte, als keiner erschienen war auf seine Frage. Es ist komisch, dachte er, mit einem Teil hab’ ich Angst, mit einem anderen bin ich cool und guck mir selber zu: mal sehen, was er jetzt macht, wo er Angst hat. Ist wenigstens was Neues.
Er hatte Hunger. Das einzige, was er selber zubereiten konnte, waren Spiegeleier. Der Herd funktionierte. Er ertappte sich bei der Hoffnung, der Herd könnte nicht funktionieren, weil der Strom ausgefallen war. Das hätte sie in Panik versetzt und aus dem Haus getrieben; zu Jimmy oder sonst einem Fachmann. Ziemlich absurde Annahme.
Weitere Kostenlose Bücher