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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Fiel jetzt auch weg. Strom war da. In diesem Haus funktionierten die Sachen sogar, wenn kein Strom da war. Großvaters Radio. Berger fiel ihm ein und das Radio und eine Menge andere Dinge. Das Radio hatte er in der Nacht, bevor sie den Großvater wegbrachten, im Keller in der Com-Zentrale versteckt. Er gab sich selber keine Rechenschaft darüber. Ganz natürlich war das gewesen. Und keiner hatte gefragt nach dem Radio. Nach Großvater hatten sie auch nicht gefragt. Nur er hatte danach gefragt. Er vermißte den Großvater.
    »Dr. Lennart meldet, es geht deinem Großvater gut«, sagte der Dozent, »und das muß dir genügen. Uns genügt es ja auch. Oder hast du kein Vertrauen zu Dr. Lennart?« Markus erwiderte nichts darauf; es würde sonst eine langweilige Diskussion um Bürgerpflichten und Ökophilie geben und all das Zeug. So hoffte er nur, daß der Großvater bald wieder zurückkam. Er war schon einmal längere Zeit weg gewesen und wieder zurückgekommen. Eine längere Zeit war eine Woche. Es war die längste Zeit, die er sich in die Zukunft hinein vorstellen konnte. Die Woche war um. Genau heute. Großvater war nicht zurückgekommen. Und die Eltern waren auch weg. Markus verstand das nicht. Wo waren sie alle? Der Großvater, der Dozent, die Frau? Dann dachte er daran, daß der Großvater gestorben sein könnte, oder im Sterben liegen oder so, und daß sie deshalb weggelaufen waren zum Großvater. Das beruhigte ihn ein wenig.
    Er schob die Spiegeleier in der Pfanne hin und her und konnte genau hören, was außen der Screen von sich gab.
    »… zahlreiche Ehrengäste der benachbarten Soz-Gruppen hatten sich heute vormittag zur Einweihung der Anlage in der Lindengasse eingefunden. Trotz schlechten Wetters …«
    Wieso konnte er das hören? Weil die Tür offen war. Die Küchentür war sonst nie offen, wegen der Hygiene. Die Frau achtete sehr auf Hygiene. Bei offener Küchentür kamen immer die Fliegen herein und setzten sich auf die Speisen. Nicht einmal der Dozent sagte etwas gegen das Tür-Zumachen, obwohl es doch nach seiner Ansicht gar keine Fliegen geben sollte. Es gab sie aber, wegen der Toilette. Markus hatte es in der Aufregung nur vergessen, die Tür hinter sich zu schließen. Und als er es jetzt tat, merkte er, wie unnötig es war. Es gab keine Fliegen. Nicht in der Küche und nicht außerhalb der Küche. Er ging durchs Haus und konnte keine einzige Fliege entdecken. Auch das Klo war fliegenfrei. Er war benommen und ging mit seinem Teller zurück ins Wohnzimmer. Im Nachbarschaftsvideo zeigten sie einen Bericht über die Einweihung einer neuen Photovoltaik-Anlage. Sie lieferte vorerst keinen Strom, weil es in Strömen regnete. Markus mußte fünf Minuten lang zusehen, bis er darauf kam, daß er das schon gesehen hatte; letzte Woche war diese Einweihung gewesen. Heute schien die Sonne. Eine Wiederholung. Das hatten sie noch nie getan; überhaupt noch nie. Irgendwie war das schlimmer als das leere Haus und die Fliegen, die nicht da waren. Alles scheint fort zu sein, dachte er. Die Leute, die Fliegen, das aktuelle Programm.
    Er stellte den Teller ab. Er hatte keinen Appetit mehr. Dann machte er den Screen aus. Es wurde still; ganz still. So still, wie es hier zuvor noch nie gewesen war. In dieser Stille wurde er ganz ruhig. Er wußte, was er tun mußte, wenn wieder Ton und Leben einziehen sollten.
    Großvaters Radio. Er mußte Großvaters Radio einschalten. Das Radio würde etwas bringen, etwas Aktuelles, etwas, das jetzt, gerade jetzt passierte. Auch wenn es noch nicht halb acht war. Er ging in den Keller und holte das Radio herauf. Er stellte es auf den Wohnzimmertisch. Er hatte keine Angst, ertappt zu werden. Seine Eltern würden nicht plötzlich hereinkommen, während er dem Radio zuhörte. Wahrscheinlich würden sie nicht hereinkommen; nein, bestimmt würden sie nicht hereinkommen. Bestimmt nicht mehr.
    Zuerst Rauschen, wie üblich. Dann, klar und deutlich, viel deutlicher als die Stimme Marthas, Keuchen und Stöhnen. Keuchen von einem Mann, Stöhnen von einer Frau. Eindeutig, womit sie sich beschäftigten. Eindeutig auch, wer sie waren. Seine Mutter und Jimmy. Richtig, so hörte es sich an. Und es hörte sich nicht so an, als ob es jemals wieder aufhören würde. Es konnte gar nicht aufhören. Nicht in 100, nicht in 1000 Jahren. Das alleraktuellste Programm, jetzt und für immer. Und die Stimme des Dozenten.
    »… es ist mir klar, meine Herren, daß wir Variante 4 nicht auf die gleiche Art durchführen

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