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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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kritischen Augenblick mit einem tiefen Seufzer »Scyll, Mädchen!« zu ihr gesagt hatte, hatte sie sich böse umgedreht und war, ohne ein Wort zu sagen, eingeschlafen. Genau wie früher!
    Scyllie, wer war das auch wieder gewesen? War das nicht das Mädchen, mit dem er … Er erinnerte sich verschwommen an etwas wie eine Küche – oder war es diese schlanke Tanne, die immer modisch gekleidete Dame, die aussah, als ob schon allein das Wort »Beine« sie in Ohnmacht fallen lassen würde. Aber er hatte sie doch … und ausgerechnet im Behandlungsstuhl … Nichts als Beine, dachte er grinsend.
    Wer Scyllie auch gewesen sein mochte, sie war jetzt tot und begraben. Aber sie lebten noch. Duiker wußte natürlich, daß auch für sie früher oder später das letzte Stündlein schlagen würde. Ihm war aufgefallen, daß Anna wieder ein Armband oder eine Kette trug und sich eine bunte Brosche ans Kleid steckte. Auffälliger denn je zuvor schlurfte sie durchs Zimmer. In ruhigen Augenblicken, wenn sie nichts anderes zu tun hatten, unterhielten sich die beiden Alten über ihren Jugendtraum: Sie hatten ein paar Jahre arbeiten und genügend zusammensparen wollen, um einen Wohnschreiter zu kaufen und damit durch die Welt zu ziehen, ans Mittelmeer, zum Himalaya, in den Fernen Osten … Es war nie dazu gekommen, und Duiker wußte nicht, ob das daran lag, weil es ein unrealistischer Plan gewesen war oder weil ihr Sparen nur Theorie geblieben und durch das ständige Geldausgeben vereitelt worden war.
    Eine Zeitlang hatten sie einen Schreiter besessen und damit Wochenendreisen nach Bergen aan Zee, in die Ardennen und in den Reichswald unternommen. Einmal waren sie sogar eine Woche lang durch die Vogesen gezogen. Es waren schwache Abbilder der Fata Morgana ihrer Jugendzeit, die sie jetzt dem Roboter als farbenfrohe Erzählungen präsentierten. Er hörte fasziniert zu. Es höre sich vielleicht schwierig, teuer und beschwerlich an, meinte Bally eines Mittags, aber der Traum sei keineswegs unrealisierbar. Wenn sie einen alten Schreiter kaufen würden, könne er ihn problemlos reisefertig machen. Ein kleiner Beitrag von Viktor oder Veronika würde für den Ankauf und für die Ersatzteile ausreichen. Das Gepäck würden sie auf das Dach packen. Und wenn sie hier im Wohnzentrum von ihrer Staatlichen Einkommensentlastung leben konnten, warum sollten sie dann nicht auch anderswo mit ihrem SEE auskommen können?
    Bally würde den Schreiter steuern, und die beiden Alten würden die Landschaft und all das Neue und Fremde genießen. Nachts würden sie auf den umgeklappten Sitzen schlafen, mit Gardinen vor dem Fenster, und der Roboter würde draußen Wache halten, bei Nässe zur Not in einem Plastiksack. Hitze und Frost konnten ihm nichts anhaben.
    Duiker schüttelte den Kopf, und das Menschlein preßte die Hände auf die Brust, als ob sie schon allein bei dem Gedanken ihr Herz festhalten müsse.
    Als sie sich später zu dritt über die Weltkarte beugten, die unmerklich den Platz des I Ging eingenommen hatte, sah er alle möglichen Szenen vor sich. Der Wagen fuhr an der Berliner Mauer vorbei, am Ganges, am Grand Canyon entlang. Oder sie überquerten einen Platz; zu allen Seiten hasteten Menschen an ihnen vorüber, auf dem Weg zu ihrer Arbeit, zu wichtigen Terminen, zu einem Gleiter, den sie nicht verpassen durften. Am anderen Ende des Platzes lag die Akropolis, der Kreml, der Borobudur, die verbotene Stadt, ja, Manhattan!
    Manchmal war er mit Anna draußen, hoch auf dem Eifelturm, auf der Pyramide von Gizeh, dem Fudschijama, dem Empire State Building, während in der Tiefe ihr Schreiter wartete, und daneben der Roboter – ein Punkt nur noch – stand und ihnen zuwinkte. Manchmal war Duiker alleine: In der Opiumhöhle in Bangkok, zwischen alten Männern, die einander schläfrig zunickten, während in Gold gekleidete Mädchen dafür sorgten, daß ihre Pfeifen ständig brannten.
    Duiker konnte seinen Kopf so oft schütteln, wie er wollte: In ihm war eine Sehnsucht erwacht, und selbst wenn er aus dem Fenster ihres kleinen Zimmers schaute und die Sonne über der Stadt scheinen sah, meinte er, die goldenen Dächer von Bagdad aus Tausend und einer Nacht zu sehen.

 
6
     
    Die alte Frau Duiker holte die Noten ihrer Sonate hervor. Der Androide hatte das Instrument gestimmt. Nicht ganz sauber, dachte sie, aber sie war sich nicht sicher. Heute wollten sie die Schlußtakte des ersten Teils üben. Noch einen Monat, und er würde das Stück ganz spielen

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