Watch Me - Blutige Spur (German Edition)
Es würde die Sache gefährlich machen. Sheridan wünschte, es wäre ihr Kampfgeist, der sie antreiben würde, aber sie musste sich eingestehen, dass es eigentlich die Versuchung war. „Ich werde es nicht riskieren, hier splitterfasernackt vor dir zu sitzen, während du noch vollständig angezogen bist und mir dein ,Hab ich doch gleich gesagt’-Grinsen schenkst.“
„Das könnte passieren.“
Und es könnte noch mehr passieren, wenn sie der Verlockung nachgeben würde. „Warum hat deine Mutter John Wyatt geheiratet?“, wiederholte sie.
Gelassen lehnte er sich zurück. „Das andere Thema hat mir wesentlich besser gefallen.“
„Ich bin neugierig.“
„Ich glaube, sie hat ihn geliebt. Am Anfang. Außerdem war es wahrscheinlich ein Ausweg für sie.“
„Ausweg woraus?“
„Aus dem Leben, das wir führten. Sie arbeitete als Kellnerin in einem Striplokal in Nashville. Es war keine gute Umgebung, aber es war die einzige Arbeit, die sie bekam, bei der sie genug verdiente, damit wir ein Dach über dem Kopf hatten und sie zumindest einen Teil des Tages mit mir verbringen konnte.“
„Was ist mit deinem Vater?“
„Welcher Vater?“
„Du hast nie etwas von ihm gehört?“
„Kein einziges Wort.“
„Und die Familie deiner Mutter?“
„Ihre Eltern haben sie rausgeworfen, als sie mit mir schwanger war.“
Sheridan fragte sich, ob Julia wohl jemals in Versuchung gewesen war, ebenfalls zu strippen, um bessere Trinkgelder zu bekommen, aber sie wollte Cain nicht danach fragen. „Kennst du ihre Familie?“
„Nein. Sie ist als Baby adoptiert worden, aber kurz nach dem das Paar sie aufgenommen hatte, bekam es ein eigenes Kind. Sie hatte immer das Gefühl, im Schatten zu stehen. Wenn die sie einfach so rauswerfen konnten, ohne je zu versuchen, sie wieder ausfindig zu machen, dann halte ich es für zwecklos, den Kontakt zu ihnen zu suchen.“
„John ist also regelmäßig in ein Striplokal gegangen?“ Sheridan erinnerte sich, dass er genauso oft zum Gottesdienst in die Kirche gegangen war wie ihre Eltern. Die beiden Bilder schienen nicht so recht zusammenzupassen.
„Er erzählt jedem, sie hätten sich in einem Restaurant kennengelernt.“
Sheridan schob sich die Haare hinters Ohr. „Ich wette, deine Mutter war begeistert, dass du einen Vater bekommen würdest.“
„So was Ähnliches zumindest.“ Er lachte spöttisch auf.
„Hatte sie das Gefühl, dass sie einen Fehler gemacht hatte?“
„Ich glaube, das wurde ihr ziemlich schnell klar. Die ersten ein, zwei Jahre ging es noch gut, aber John benahm sich die meiste Zeit über wie ein Riesenbaby, und das wurde zu einem ernsten Problem. Er forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit, und dabei war ich ihm im Weg. Ich bin sicher, dass sie ihn verlassen hätte, aber dann bekam sie die Diagnose.“
„Also hat sie durchgehalten.“
„Er hat sie nie geschlagen. Und sosehr sie sein Selbstmitleid und seine Schimpftiraden auch geärgert haben mochten -sie wollte mich nicht alleinlassen, wollte nicht in dem Wissen sterben, dass ich niemanden habe. Und sie vertraute darauf, dass Marshall für mich tun würde, was er konnte, vorausgesetzt, sie blieb bei John.“
„Was ist mit John? Wenn die Ehe nicht funktioniert hat, warum hat er dann weiter daran festgehalten? Warum hat er sich all die Monate um sie gekümmert? Aus Mitleid?“
Cain griff nach seinen Karten und starrte darauf, aber Sheridan wusste, dass er sie nicht wirklich sah. „Marshall hätte ihn enterbt, wenn er sie zu diesem Zeitpunkt rausgeworfen hätte. Er hatte seinen Eisenwarenladen bereits verkauft, anstatt ihn John zu überschreiben. Er brauchte das Geld für seinen Ruhestand, aber John hat es nicht so gesehen. Die Beziehung zwischen den beiden war angespannt. Außerdem gefiel John sich in der Rolle des Helden. Überall, wo wir hinkamen, klopfte man ihm auf die Schulter und lobte ihn für seine Selbstlosigkeit.“ Er schüttelte den Kopf. „Uns weiterhin in seinem Haus wohnen zu lassen war ein geringer Preis für so viel Selbstbestätigung. Es kostete ihn schließlich nichts. Als meine Mutter nicht mehr arbeiten konnte, griff Marshall ihnen unter die Arme. John kümmerte sich einfach um seinen Kram, als sei sie gar nicht da.“
„Wie traurig!“
Cain presste die Lippen zusammen. „Ich hasse ihn dafür, wie er sie behandelt hat.“
Sheridan fragte sich, wie Jason so ungerührt davon bleiben konnte, obwohl er im selben Haus lebte. Sie hatte einen Kurs mit ihm zusammen gehabt. Hin und wieder
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