Watermind
Blickkontakt mit ihr auf. Als sie am Ufer an ihm vorbeiging, hielt er den Kopf gesenkt.
Eilig ging sie noch einmal ihre Ausrüstung durch, Laptop, Feldmessgerät, Infrarotfernglas. Roman war sehr großzügig gewesen. Außerdem hatte sie Peters Arbeitsplatz an Bord der Chasseur geplündert und alles eingesackt, was für sie von Nutzen sein mochte. Peter war immer noch auf dem Fluss und beobachtete das Kolloid. Der unbeständige platingrüne Schleim war wieder zum Flussgrund hinabgesunken, mit Zucker und gelösten Metallen gesättigt. Und er kroch flussabwärts weiter. Sie musste sich beeilen.
CJ stellte ihren Laptop auf die Instrumentenkonsole des Sumpfboots und sah sich noch einmal ihre Daten an. Die Sonne spiegelte sich auf dem Bildschirm. Die Lubell-Lautsprecher und Max' CDs waren noch im Jeep. Jeder Gedanke an Max versetzte ihr aufs Neue einen Stich – und stärkte gleichzeitig ihre Entschlossenheit, das Kolloid aufzuhalten.
Sie blickte zum fernen Damm, der mit den blauen Spundwänden und gelben Säcken verstärkt worden war, die Roman schon zuvor benutzt hatte. Creque und Spicer hatten ihre Vakuumpumpen auf einem Pritschenwagen in den Sumpf geschafft. CJ sah, wie sie ihre Ausrüstung aufbauten, mit der sie die Probe einsammeln wollten. Der Plan sah vor, dass die Lautsprecher außerhalb des Wehrs in Aktion traten, damit sich Max' Musik durch den Fluss ausbreitete und das Kolloid in den Überlaufkanal lockte. Roman hatte weitere Lubells angemietet, die in der Nähe des Sandsackdamms platziert werden sollten. Dann mussten alle Lautsprecher miteinander verbunden werden, damit sie gleichzeitig dieselbe Musik abspielten. CJ sah auf ihre Armbanduhr am linken und ihren Kompass am rechten Handgelenk. Dann zog sie die rote Jacke aus und schlang sie sich um die Hüfte. Sie schwitzte.
Der laute Bach zerrte an ihrem Boot, und sie blickte zum schäumenden Wasser auf, das zwischen den Pflöcken hervorschoss. Wenn das Wehr vollständig geöffnet war, würde sich der Strom in einen reißenden Wasserfall verwandeln. Sie hielt inne und kratzte sich an der Nase. Wie sollte man kohärente Schallwellen durch diese rauschende Barriere schicken?
Das Wasser sang wie angeschlagene Becken. Sie schloss ihren Laptop und horchte auf die tosende Gewalt, und ihre Gedanken riefen die Erinnerung an eine MIT-Vorlesung über Flüssigkeitsdynamik wach. Sie dachte über Turbulenzen und Advektion nach, über Grenzschichten, Streckung, Faltung und chaotische Strömungen. Die hohen und tiefen Töne des Wassers waren wie ein Echo ihrer Gedanken.
Verzerrung. Die Warnung der Oberhexe, die sie aus dem Krankenhaus gegeben hatte. Dieses rauschende Chaos würde ihre Musiklektion in Fetzen reißen.
CJ sprang vom Sumpfboot und watete in das Wasser. An der Basis des Wehrs leuchtete der Nebel im Sonnenlicht und ließ den schimmernden Geist eines Regenbogens entstehen. Sie spürte, wie die Strömung zwischen ihren Beinen hindurchging und sie mitreißen wollte. Verzerrung. Ganz einfach. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen?
Sie schöpfte das gurgelnde Wasser mit den Händen. Das Kolloid hatte im Fluss nicht auf ihren Ruf reagiert, weil es ihn gar nicht gehört hatte. Die Turbulenzen hatten die Musik in sinnloses Rauschen zerlegt. Das Bassin war eine isolierte, stille Umgebung gewesen. Dort hatten sich die Schallwellen ungehindert ausbreiten können. Sie beobachtete, wie die Gischt durch das Wehr schoss. Derart günstige Bedingungen konnte sie hier nicht schaffen.
Sie watete zum Ufer und ließ sich auf Hände und Knie fallen. Der Auffangdamm, die Ausrüstung, all die Bemühungen – sie kam sich vor wie ein hirnloser Obertrottel. Ihr Plan taugte nichts.
Ideen zuckten durch ihren Kortex. Sie musste das Kolloid unbedingt durch dieses Wehr locken, aber wie? Nicht mit Nahrung. Der Fluss bot bereits ein einziges rauschendes Festmahl. Nein, der Köder musste intelligente Kommunikation sein, dessen war sie sich ganz sicher. Sprache. Musik. Inhalt. Aber welche Art von Information konnte sich durch schnell fließendes Wasser ausbreiten, ohne verzerrt zu werden? »Harry, sag mir, was ich tun soll.«
Eine Sekunde später klappte sie hektisch ihr Handy auf und rief Elaine Guidry an. »Wo ist Yue? In welchem Krankenhaus? Ich brauche ihre Nummer.«
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Sonntag, 20. März, 7.22 Uhr
Als das Bonnet-Carré-Wehr in den frühen 1930ern gebaut worden war, hatte das Ingenieurcorps eine neue Betonmischung entwickelt, die einen Druck von 350 Kilogramm pro
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