Watersong - Wiegenlied: Band 2 (German Edition)
langweilig?«, fragte Gemma. » Willst du nicht mal was anderes sehen? Was Blaues vielleicht?«
Sawyer lachte leise und deutete auf die Fenster hinter ihm. » Ich habe ein ganzes Meer aus Blau vor der Tür. Ich kann so viele Farben sehen, wie ich will.«
» Oh, stimmt.«
Gemma schaute auf die geschälte Orange in ihrer Hand und zwang sich, hineinzubeißen. Als sie endlich einen Bissen genommen hatte, bereute sie es sofort. Normalerweise liebte sie Orangen, doch diese schmeckte so furchtbar, als wäre ihr Saft aus Batteriesäure.
» Iiih.« Sie verzog das Gesicht und warf die Frucht in den Mülleimer. Keinen Bissen brachte sie mehr davon runter.
» War sie schlecht?«, fragte Sawyer und beobachtete, wie sie angeekelt den Kopf schüttelte.
» Nein, ich glaube nicht.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
» Soll ich dir was anderes zu essen machen?«, bot er an und trat zum Kühlschrank.
» Nein, schon gut. Ich glaube, ich habe doch keinen Hunger.«
» Bist du sicher?«, fragte Sawyer. » Ich habe gerade nichts zu tun und ich kann ein super Omelett machen.«
» Lass nur«, wehrte Gemma ab und ging zur Tür. » Ich lege mich lieber ein bisschen hin.«
» Na gut«, sagte Sawyer. Er klang enttäuscht.
Obwohl er sich über ihren Anblick erst nicht gefreut hatte, schien er nun doch betrübt, dass sie ihn verließ. Gemma mochte nicht die gleiche Anziehungskraft auf ihn ausüben wie Penn und die anderen Mädchen, aber sie war trotzdem eine Sirene. Selbst ohne es zu wollen, konnte sie einen Mann verzaubern.
Sie eilte aus der Küche und rannte fast die Treppe hinauf. Seit sie von der Orange gegessen hatte, fühlte sie sich noch schlechter als vorher. Sobald sie in ihrem Zimmer war, knallte sie die Tür zu und lehnte sich dagegen.
Ihr ganzer Körper zitterte und selbst tiefe Atemzüge der klaren, salzigen Meeresluft schienen dagegen nicht zu helfen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte sich, wie lange sie das noch durchhalten konnte. Irgendwann würde sie essen müssen.
FÜNF
Auf der Suche
S eit Gemmas Verschwinden vernachlässigten Harper und Brian ihren Haushalt. Sie hatten anderes im Kopf und so herrschte große Unordnung im Haus. Zeitungen lagen überall im Wohnzimmer verstreut und zahlreiche leere Bierflaschen standen auf dem kleinen Tisch neben Brians Sessel. Aus der Tür der kleinen Wäschekammer neben der Küche quoll ein Haufen schmutziger Kleider; allerdings hatte der sich schon aufgetürmt, bevor Gemma weggegangen war.
Harper betrachtete die Unordnung um sich herum und kaute an ihrer Unterlippe. Sie hatte keine Lust aufzuräumen, und das lag nicht daran, dass sie faul war. Es fühlte sich nur wie Verrat an. Ihre Schwester war vermisst, und sie hatte kein Recht, einfach ihr normales Leben weiterzuführen, als wäre diese Katastrophe nicht passiert.
Das Problem war nur, dass das Leben nicht stehen blieb, weil Gemma weg war. Der Müll musste trotzdem rausgebracht, der Rasen dennoch gemäht werden. Und ihr Vater musste immer noch zur Arbeit gehen.
Harper hätte eigentlich heute selbst in der Bücherei arbeiten müssen, aber sie hatte Brian nur dadurch überreden können, das Haus zu verlassen, indem sie einwilligte, selbst dazubleiben. Er bestand darauf, dass immer jemand zu Hause war, falls Gemma zurückkommen oder anrufen sollte.
Als Brian schließlich am Morgen gegangen war, hatte Harper zunächst nervös an der Tür gewartet. Er war zwei Tage nicht mehr bei der Arbeit gewesen und bereits zu spät dran. Vielleicht hatte er seine Stelle längst verloren. Doch als er nach einer Stunde nicht zurückgekommen war, seufzte sie erleichtert und machte sich ans Werk.
Die erste Hälfte des Tages verbrachte sie damit, sämtliche Organisationen anzurufen, die sich um vermisste Kinder kümmerten. Leider wollte keine davon Gemma auf der Suchliste weit nach oben setzen, zum einen aufgrund ihres Alters und zum anderen, weil sie freiwillig ihr Zuhause verlassen hatte.
Sobald das erledigt war, setzte Harper sich mit dem Telefon an den Küchentisch und überlegte, wen sie noch anrufen oder wo sie sonst suchen könnte. Leider fiel ihr nichts und niemand mehr ein.
Harper und Gemma hatten ihr ganzes Leben in Capri verbracht und keine engen Beziehungen zu Leuten außerhalb geknüpft. Ihre Großeltern waren tot, und es gab nur noch eine Tante und ein paar Cousins und Cousinen in Kanada, die sie fast nicht kannten.
Plötzlich fiel Harper auf, in welch chaotischem Zustand sich das Haus
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