WattenMord (German Edition)
ab.
Feierabend, dachte sie zufrieden und freute sich auf ein entspannendes Bad, auf eine warme Mahlzeit und auf Schmusestunden mit Garfield, ihrem Kater. Wahrscheinlich würde er sie wieder vorwurfsvoll anmaunzen, weil sie nach einem langen Tag nach Hause kam. Just in den Moment, als sie den Schlüssel in die Haustür stecken wollte, wurde die Tür von innen geöffnet. Durch die unterteilten Scheiben erkannte Wiebke ihre Vermieterin Heike Ludzuweit.
„Moin“, sagte Wiebke mit einem freundlichen Lächeln.
Heike erwiderte den Gruß. „Bist spät dran“, schmunzelte sie.
Normalerweise interessierte sie sich nicht für die Arbeitszeiten ihrer Mieterin. Wiebke fragte sich, ob es einen Grund dafür gab, dass sie es heute trotzdem tat.
„Wir hatten einen Toten, recht spektakulär“, erklärte sie Heike. „Ich darf nicht drüber schnacken …“
„Kein Thema.“ Heike lächelte mütterlich und winkte ab. „So ist sie, unsere Wiebke“, rief sie dann laut ins Haus. „Flitig as en Imm – fleißig wie eine Biene!“
Wiebkes Eindruck, dass heute etwas anders war als an den anderen Tagen, verstärkte sich. Gleichzeitig verspürte sie ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, das sie sich nicht recht erklären konnte. „Heike“, sagte sie ein wenig kleinlaut. „Was ist hier eigentlich los?“
„Komm doch erst mal rein!“ Sie zog Wiebke ins Haus und verschloss die Haustür. „Hast Besuch bekommen heute!“
Wiebke schwante nichts Gutes. Wahrscheinlich war Tiedje so dreist gewesen, unangemeldet hier aufzutauchen. Dafür hatte er ein Gespür. Immer dann, wenn Wiebke an einem Fall arbeitete, der sie in Beschlag nahm, tauchte ihr Exfreund hier auf und jammerte, dass sie nur für den Job lebte. Daran, davon war er felsenfest überzeugt, war auch ihre Beziehung gescheitert. Selten nur hielt er mit seiner Meinung hinter dem Berg, dass er sich quasi aus purer Langeweile eine andere Frau gesucht hatte.
Und Heike hatte ihn, gut, wie sie war, ins Haus gelassen, damit er hier auf sie warten konnte. Wiebke spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Sie fühlte das dringende Verlangen, Tiedje gleich die Meinung zu geigen, machte aber gute Miene zu bösem Spiel.
Nun standen die beiden Frauen ein wenig unschlüssig im Flur der Erdgeschosswohnung. Wiebke hatte ein gutes, fast freundschaftliches Verhältnis zu ihren Vermietern, und oft genug saßen sie an lauen Sommerabenden bis spät in die Nacht auf der Terrasse hinter dem Haus und tranken Wein und redeten über Gott und die Welt.
Doch heute fühlte sie sich ausgepowert. Obwohl sie einigen Hinweisen hinterher gejagt waren, gab es keine konkreten Spuren. Und Jörn Holst war für sie nun mal nicht der Täter, auch wenn sie nicht erklären konnte, warum und ihre Kollegen das anders sahen. Es war ein frustrierendes Gefühl. Deshalb war Wiebke eigentlich nicht nach Gesellschaft – den Feierabend hätte sie gern allein verbracht. Doch niemand hatte sie nach ihren Wünschen gefragt.
„Lass mich raten“, setzte sie an und zwang sich, dabei zu lächeln.
„Ja, es ist ein Mann.“ Heike nickte. „Aber ich lass euch jetzt mal allein. Ihr habt euch sicher eine Menge zu erzählen.“
Heike zog sich dezent zurück, ohne Wiebke eine Chance zu geben, ihren Protest kundzutun. Nachdem sie den Eingang freigegeben hatte, tauchte eine massige Gestalt hinter ihr auf. Groß und stabil wie Tiedje. Doch der Mann war nicht Tiedje. Er war ein paar Jahrzehnte älter als Wiebkes Exfreund. Und er trug verschlissene Jeans, ein ungebügeltes Hemd, dazu ausgetretene Schuhe und einen zerknitterten Sommermantel, der Wiebke unwillkürlich an den berühmten Trenchcoat des Inspector Columbo aus den Fernsehserien ihrer Kindheit erinnerte.
Doch vor ihr stand weder Tiedje noch Columbo. Das Gefühl, das sie in diesem Augenblick überrannte, war schwer zu beschreiben. Rührung, Herzklopfen, Aufregung. Nur die Wut, die sie noch vor einer Sekunde gehabt hatte, war verflogen.
Kurz dachte sie daran, einer Halluzination unterlegen zu sein. Doch dafür war es in Nordfriesland nicht warm genug.
Der Mann, der nun vor ihr stand, war keine Sinnestäuschung. Es war der, den sie am Mittag schon am Hafenbecken gesehen hatte.
Alt war er geworden, doch er war es. Eigentlich hatte sich der Mann, der nun lächelnd vor ihr stand, kaum verändert. Schon früher hatte er Bundfaltenjeans getragen – mit dem Unterschied, dass diese Hosen damals noch modern gewesen waren. Und es fühlte sich seltsam an, fast so, als hätten sie sich
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