Way Out
war die Gasse sechs, sieben Meter hoch mit einem Eisengitter abgeriegelt.
Hier kam niemand hinein.
Reacher trat zurück, sah nach beiden Seiten. In dem Haus rechts neben dem Zielgebäude lag ein Pralinengeschäft. Sein Schaufenster war mit einem Gitter gesichert, aber Reacher konnte darin ausgestellte Pralinen von der Größe einer Babyfaust sehen. Attrappen, vermutete er. Sonst wären sie geschmolzen oder weißlich angelaufen. Hinten im Laden brannte Licht. Er legte beide Hände an das Glas und spähte hinein. Sah eine schemenhafte kleine Gestalt, die sich dort bewegte. Er schlug an die Tür, scheppernd, mit der ganzen Handfläche. Die kleine Gestalt blieb stehen, drehte sich nach dem Krach um. Deutete auf etwas, das sich ungefähr in Reachers Taillenhöhe befand. Innen an der Glastür klebte ein sauber bedrucktes Kärtchen: Wir sind von 10-22 Uhr für Sie da . Er schüttelte den Kopf, winkte die kleine Gestalt zu sich heran. Sie reagierte mit einem universalen irritierten Schulterzucken, kam aber an die Tür. Es war eine Frau: zierlich, dunkel, jung, müde. Sie sperrte mehrere komplizierte Schlösser auf und ließ die massive Sperrkette eingehakt, als sie endlich die Tür öffnete.
»Wir haben geschlossen«, teilte sie Reacher durch den schmalen Spalt mit.
»Gesundheitsamt«, sagte Reacher.
»So sehen Sie nicht aus«, meinte die Frau. Und sie hatte recht. Als in einem Hauseingang schlafender Stadtstreicher hatte Reacher überzeugend gewirkt, als städtischer Bürokrat jedoch nicht. Deshalb nickte er zu Gregory in seinem adretten Anzug hinüber.
»Er ist bei der Stadt«, sagte er. »Wir gehören zusammen.«
»Ich bin erst neulich kontrolliert worden«, sagte die Frau.
»Hier geht’s um das Nachbarhaus«, erklärte Reacher.
»Was ist damit?«
Reacher schaute über ihre Schulter. Ein ganzer Laden voller Luxusartikel, die niemand wirklich braucht. Folglich gibt’s keinen festen Kundenstamm. Folglich ist die Inhaberin leicht verunsichert.
»Ratten«, sagte er. »Ich bin der Kammerjäger. Wir haben mehrere Meldungen bekommen.«
Die Frau schwieg.
»Haben Sie einen Schlüssel für das Gassentor?«, fragte Gregory.
Die Frau nickte. »Aber wenn Sie wollen, können Sie durch meine Hintertür raus. Das geht schneller.«
Sie hakte die Sicherungskette aus. Führte sie durch den Verkaufsraum, in dem es intensiv nach Kakao roch. Der vordere Teil des Ladens war für den Verkauf hergerichtet, aber hinten gab es einen Fabrikationsraum. Öfen, die gerade warm wurden. Dutzende von blitzblanken Tabletts. Milch, Butter, Zucker. Kessel mit schmelzender Schokolade. Arbeitsflächen aus Edelstahl. Am Ende eines kurzen gekachelten Flurs lag der Hinterausgang. Als die Frau sie hinausließ, fanden Reacher und Gregory sich auf einer mit Klinkersteinen gepflasterten Gasse wieder, die für die um neunzehnhundert üblichen Fahrzeuge eben breit genug gewesen sein mochte. Sie führte quer durch den Block nach Westen, wo sie an der Thompson Street mit einem Tor gesichert war und abknickend zur Spring Street mit dem Tor, das sie bereits kannten. Von hinten sah das Zielgebäude ebenso schlimm aus wie von vorn. Vielleicht sogar noch schlimmer. Weniger Graffiti, mehr Verfall. Eisschäden an der Klinkerfassade, von Moos bedeckte Gullys.
Ein Fenster im Erdgeschoss. Und eine Hintertür.
Sie war ebenso mattrot wie die vordere Haustür, sah aber noch heruntergekommener aus. Sie schien aus mit Stahlblech beschlagenem Holz zu bestehen, das zuletzt von einem Koreaoder Weltkriegsveteranen gestrichen worden war. Aber sie wies ein modernes Schloss mit kräftiger Stahlzunge auf. Die altmodische Messingklinke darüber war schwarz angelaufen und mit tiefen Korrosionsnarben bedeckt. Reacher drückte sie herab. Die Tür gab ein, zwei Millimeter nach, dann wurde sie von der stählernen Schlosszunge gestoppt.
Hier kamen sie nicht hinein.
Reacher machte kehrt und ging in den Fertigungsraum der Pralinenherstellerin zurück. Sie war eben dabei, flüssige Schokolade so aus einem schweren Leinenbeutel mit silberner Tülle zu drücken, dass alle fünf Zentimeter ein Klacks auf ein Backblech kam.
»Möchten Sie den Löffel ablecken«, fragte sie, als sie bemerkte, dass er sie beobachtete.
»Haben Sie nebenan schon mal jemanden gesehen?«, lautete seine Gegenfrage.
»Niemals.«
»Nicht mal kommend oder gehend?«
»Nie«, sagte sie. »Das Haus steht leer.«
»Sie sind jeden Tag hier?«
»Ab halb acht Uhr morgens. Als Erstes schalte ich die Öfen ein und
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