Waylander der Graue
ab ging. Der Mann sah verängstigt aus, dachte er, und das war nicht gerade ermutigend. Priester sollten immer ruhig und gelassen sein. »Wie ich höre, hast du den neuen Tempel mit Gläubigen gefüllt«, sagte der Herzog. »Ich sollte mal einen deiner Gottesdienste besuchen.«
»Sehr freundlich, Herr. Aber es stimmt, die Gläubigen werden in Carlis immer stärker.«
»Religion ist eine gute Sache«, meinte der Herzog. »Sie hält die Armen zufrieden.«
Chardyn lächelte. »Glaubst du, das wäre ihr einziger Zweck?«
Der Herzog zuckte die Achseln. »Wer kann das sagen? Ich für mein Teil habe nie ein Wunder gesehen, und die QUELLE hat nie zu mir gesprochen. Aber ich bin schließlich auch vor allem Soldat. Ich neige dazu, nur das zu glauben, was ich sehen und anfassen kann. Ich habe wenig Zeit für Glauben.«
»Hast du nie gebetet?«
Der Herzog lachte leise. »Einmal war ich von Stammeskriegern der Zharn umzingelt und mein Schwert barst. Da habe ich gebetet, kann ich dir sagen.«
»Offensichtlich wurde es erhört, denn du stehst ja vor mir.«
»Ich habe sie angesprungen und rammte dem ersten mein zerbrochenes Schwert in die Kehle. Als die anderen näher rückten, gruppierten sich meine Männer neu und zersprengten sie. Also, erzähl mir von deinem Glauben. Wo entspringt er?«
Chardyn wandte den Blick ab. »Ich habe die Wahrheit über die QUELLE vor vielen Jahren erkannt«, sagte er leise. »Nichts, was ich seitdem gelernt habe, hat das geändert.«
»Es muss tröstlich sein, in Zeiten wie diesen glauben zu können«, sagte der Herzog. Er blickte zu Boden und sah, dass der Graue Mann wach war. »Nur ein alter Soldat kann vor einer Schlacht schlafen«, sagte er mit einem Lächeln.
Der Graue Mann stand auf. »Wenn sie kommen, wird es keine lange Schlacht«, sagte er.
Der Herzog nickte. »Du meinst das Eis? Ich sah die toten Vögel im Wald. Erfroren. Ich hoffe, unsere Bogenschützen strecken viele nieder, ehe sie uns erreichen. Und dann, wenn die QUELLE mit uns ist«, setzte er mit einem Blick auf Chardyn hinzu, »können wir den Rest mit Schwertern erledigen.«
»Es ist immer gut, einen Plan zu haben«, sagte der Graue Mann.
»Bist du anderer Meinung?«
Der Graue Mann zuckte die Achseln. »Die Spuren, die ich sah, stammten von Wesen, die weit größer sind als Bären. Vergiss Dämonen, Herzog. Wenn zwanzig Bären dieses Lager angreifen würden, wie viele würden deine Bogenschützen dann niederstrecken? Und wie viele würden von deinen Schwertkämpfern erledigt?«
»Ich verstehe, was du meinst, aber du musst auch mich verstehen: Ich bin der Herrscher dieses Landes. Es ist meine Pflicht, die Einwohner zu beschützen. Ich habe keine Wahl, sondern muss mich diesem Bösen stellen und hoffen, dass Kraft und Mut ausreichen.«
Der Graue Mann blickte auf die Gipfel im Westen. »Wir werden es bald genug wissen«, sagte er, als die Sonne hinter die Bergspitzen zu sinken begann.
Als sich die Dunkelheit über das Tal legte, flackerte ein kleiner heller Funken hinter einer halb zerfallenen Säule auf. Staub wirbelte um ihn herum, und die Feuchtigkeit aus der Luft wurde davon angezogen. Langsam nahm es Gestalt an, als die Moleküle von Erde, Luft und Wasser sich mit dem Funken verschmolzen. Eine Form begann sich zu materialisieren, groß und dünn, nackt unter dem Mondlicht. Die Haut, zuerst gefleckt, wurde schuppig und grau. Arme wuchsen aus dem Leib, und ein fließendes Kapuzengewand aus Dunkelheit hüllte es ein. Der dünne, lippenlose Mund öffnete sich, sog die Luft ein, füllte die neuen Lungen.
Niarhazz spürte die warme Luft ringsum, die weiche Erde unter seinen Füßen, das Seidengewand auf der nackten grauen Haut seiner Schultern. Die Membran über seinen Augen glitt zurück, und er blinzelte. Einen Moment lang konnte er sich nicht rühren, denn die köstliche Freude fleischlichen Seins war zu stark und ließ ihn an allen Gliedern zittern.
Als er sich schließlich auch Bewegung zutraute, streckte er die Beine aus und trat an die Ecke der Steinsäule und spähte drum herum. Etwa dreißig Schritt weiter östlich konnte er die Menschen sehen. Er hob den Kopf und kostete die Luft in seinen Nüstern. Der Duft nach Fleisch ließ seinen Bauch verkrampfen, doch das berauschende Aroma der Angst unter diesen blassen, rosa Geschöpfen ließ ihn vor Begehren erschaudern. Instinktiv öffnete er den Mund und ließ spitze Fangzähne sehen. Erinnerungen an eine ruhmreiche Vergangenheit durchströmten ihn, zitternde
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