Weg der Träume
Ausdruck seiner Augen. Seine Haare standen nach allen Richtungen vom Kopf ab.
»Fehlt dir etwas?«, fragte sie erschrocken.
»Nein, nein… mir geht's gut. Ich habe nur gearbeitet… Tut mir Leid… ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es ist.«
Sarah erkannte den Ordner und hob fragend die Augenbrauen.
»Was ist los?«, fragte sie.
Miles wurde bewusst, wie erschöpft er war. Nacken und Hals waren steif, und er fühlte sich, als sei er von einer Staubschicht umhüllt. Er schloss den Ordner und legte ihn beiseite. Dann rieb er sich das Gesicht mit beiden Händen.
»Otis Timson wurde heute verhaftet«, sagte er.
»Otis? Weshalb…«
Mitten im Satz wusste sie plötzlich die Antwort und sog scharf die Luft ein.
»O Miles«, sagte sie und trat instinktiv auf ihn zu. Miles stand von der Bettkante auf, und sie legte die Arme um ihn. »Geht es dir wirklich gut?«, flüsterte sie und drückte ihn fest an sich.
Sämtliche Ereignisse des Tages stürzten bei dieser Umarmung über ihn herein. Das verwirrende Gemisch aus Ungläubigkeit, Zorn, Frustration, Angst und Erschöpfung vergrößerte den ne u empfundenen Verlust, und zum ersten Mal überließ sich Miles seinen Gefühlen. Mitten im Zimmer stehend, in der Geborgenheit von Sarahs Armen, brach er zusammen und weinte.
Als Charlie zum Revier zurückkam, wartete Madge schon. Normalerweise hatte sie um fünf Uhr Feierabend, aber diesmal war sie anderthalb Stunden länger geblieben. Sie stand auf dem Parkplatz und zog fröstelnd ihre lange Wolljacke enger um sich.
Charlie stieg aus dem Wagen und wischte sich die Krümel von den Hosenbeinen. Er hatte auf dem Heimweg einen Hamburger mit Pommes Frites gegessen und alles mit einem Becher Kaffee heruntergespült.
»Madge! Was machen Sie denn noch hier?«
»Ich habe auf Sie gewartet«, erwiderte sie. »Ich wollte ungestört ein paar Worte mit Ihnen reden.«
Charlie langte ins Auto und holte seinen Hut. In dieser Kälte brauchte er einen. Er hatte nicht mehr genug Haare, die seinen Kopf warm gehalten hätten.
»Worum geht es?«
Bevor sie antworten konnte, stieß ein Deputy die Tür auf, und Madge warf einen Blick über die Schulter. Um Zeit zu gewinnen, sagte sie: »Und Brenda hat angerufen.«
»Ist bei ihr alles in Ordnung?«, erwiderte Charlie, auf ihr Ablenkungsmanöver eingehend.
»So viel ich weiß, ja, aber Sie sollen sie zurückrufen.«
Der Deputy nickte Charlie im Vorübergehen zu. Als er seinen Wagen aufschloss, trat Madge näher.
»Ich glaube, es gibt ein Problem«, sagte sie leise.
»Womit?«
Sie deutete auf das Gebäude. »Thurman Jones wartet drinnen. Und Harvey Wellman.«
Charlie schwieg.
»Sie wollen beide mit Ihnen reden.«
»Und?«
»Sie sind zusammen da. Sie wollen gemeinsam mit Ihnen reden.«
Staatsanwälte tun sich nur in der äußersten Not zusammen.
»Es geht um Miles«, sagte sie. »Ich gla ube, er hat etwas angestellt. Etwas, das ihm nicht gut bekommen wird.«
Thurman Jones war dreiundfünfzig, mittelgroß und hatte wellige braune Haare, die immer zerzaust waren. Er trug im Gericht dunkelblaue Anzüge, dunkle Häkelkrawatten und schwarze Laufschuhe. Er sprach langsam und deutlich und verlor nie die Nerven, und diese Kombination, zusammen mit seinem Erscheinungsbild, kam bei der Jury stets gut an. Warum er Leute wie Otis Timson und seine Familie vertrat, war Charlie ein Rätsel, aber er tat es seit Jahren.
Harvey Wellman dagegen kleidete sich in maßgeschneiderte Anzüge und Cole-Haan-Schuhe und sah immer aus, als sei er gerade zu einer Hochzeit unterwegs. Mit dreißig hatte er die ersten grauen Haare bekommen, und jetzt, mit vierzig, war sein Haar fast silbergrau, was ihm ein sehr distinguiertes Aussehen verlieh. In einem anderen Leben wäre er Nachrichtensprecher geworden. Oder Bestattungsunternehmer.
Keiner der beiden Männer machte ein glückliches Gesicht, als Charlie vor seinem Büro auf sie zutrat.
»Sie wollten mich beide sprechen?« Die beiden standen auf.
»Es ist wichtig, Charlie«, antwortete Harvey.
Charlie führte sie in sein Büro und schloss die Tür. Er deutete auf zwei Stühle, aber die Männer blieben stehen.
Charlie verzog sich hinter seinen Schreibtisch, um etwas Distanz zwischen sich und seine Besucher zu bringen.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Wir haben ein Problem, Charlie«, sagte Harvey ohne Umschweife. »Es geht um die Verhaftung heute früh. Ich wollte schon eher mit Ihnen reden, aber Sie waren nicht da.«
»Tut mir Leid. Ich musste etwas
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