Weg der Träume
Momentaufnahme einer Familie in ihrer häuslichen Umgebung die ganze Wahrheit enthüllt.
Ich sagte mir damals, ich hätte alles falsch interpretiert. Aus isolierten Eindrücken lässt sich nichts Allgemeingültiges ableiten. Als ich ins Auto stieg, glaubte ich mir schon fast.
Aber ich musste mich vergewissern.
Es gibt einen Weg, der zur allmählichen Zerstörung führt. Wie jemand, der ein Glas trinkt, am nächsten Tag schon zwei und mit der Zeit völlig die Kontrolle verliert, wurde ich immer kühner. Zwei Tage nach meinem ersten nächtlichen Besuch musste ich Jonah wiedersehen. Ich weiß noch, was ich mir ausdachte, um mein Tun zu rechtfertigen: Ich werde Jonah heute beobachten, und wenn er lächelt, weiß ich, dass ich Unrecht habe.
Also fuhr ich zur Schule. Ich stellte mich auf den Parkplatz und hielt durch die Windschutzscheibe Ausschau. Beim ersten Mal bekam ich ihn kaum zu sehen, deshalb fuhr ich am nächsten Tag wieder hin.
Und ein paar Tage später wieder. Und wieder.
Es kam der Tag, an dem ich seine Lehrerin und seine Klassenkameraden kannte und ihn sofort entdeckte, wenn er das Gebäude verließ. Manchmal lächelte er, manchmal nicht, und den restlichen Tag grübelte ich dann darüber nach, was das wohl bedeutete. Zufrieden war ich nie.
Und dann brach die Nacht an. Wie eine juckende Stelle, die man nicht erreicht, plagte mich der Drang zu spionieren und wurde von Stunde zu Stunde stärker. Ich legte mich hin, mit weit aufgerissenen Augen, dann stand ich wieder auf. Ich lief von Wand zu Wand. Ich setzte mich hin, legte mich wieder aufs Bett. Und obwohl ich wusste, dass es Unrecht war, beschloss ich hinzufahren. In der Hand schon die Autoschlüssel, flüsterte ich mir die Gegenargumente für mein Tun zu. Ich fuhr im Dunkeln die bekannte Strecke entlang, und während ich parkte, redete ich mir gut zu, ich solle umkehren und nach Hause fahren. Ich zwängte mich durch die Büsche zum Haus, Schritt für Schritt, und verstand immer noch nicht, was mich hergetrieben hatte.
Ich beobachtete die beiden durch die Fenster.
Ein Jahr lang fügte ich die Teile ihres Lebens wie Mosaiksteinchen zusammen, bis sich sämtliche leeren Stellen allmählich gefüllt hatten.
Ich erfuhr, dass Miles manchmal nachts arbeitete, und fragte mich, wer dann auf Jonah aufpasste. Deshalb notierte ich mir Miles' Arbeitszeiten, wusste dadurch, wann er weg war, und folgte eines Tages Jonahs Schulbus. Ich sah, dass er zu einer Nachbarin ging. Ein kurzer Blick auf den Briefkasten verriet mir ihren Namen.
An anderen Tagen beobachtete ich sie beim Abendessen. Ich erfuhr, was Jonah gern aß und welche Fernsehprogramme er mochte. Ich erfuhr, dass er gern Fußball spielte und nicht gern las. Ich sah, wie er wuchs.
Ich sah Gutes und Schlechtes und hielt immer Ausschau nach einem Lächeln. Nach irgendetwas, das mich dazu bewegen konnte, diesen Wahnsinn aufzugeben.
Ich ließ auch Miles nicht aus den Augen.
Er räumte das Haus auf, legte Gegenstände in Schubladen. Er kochte. Er trank Bier und rauchte auf der Terrasse hinter dem Haus, wenn er glaubte, da ss er unbeobachtet war. Aber meistens saß er in der Küche.
Dort starrte er in den Ordner und fuhr sich dabei mit der Hand durch die Haare. Zuerst dachte ich, er hätte sich Arbeit mitgebracht, aber dann erkannte ich meinen Irrtum. Er studierte nicht verschiedene Fälle, sondern immer denselben, denn es war immer derselbe Ordner. Plötzlich begriff ich, worum es darin ging. Ich wusste, dass er mich suchte, die Person, die ihn durch die Fenster beobachtete.
Danach hatte ich eine neue Rechtfertigung für mein Verhalten. Ich kam, um ihn zu sehen, sein Mienenspiel zu erforschen, wenn er über dem Ordner saß. Ich wartete auf die plötzlich aufblitzende Erleuchtung, gefolgt von einem hektischen Telefonanruf, der zu einem Besuch bei mir zu Hause führen würde. Ich wollte wissen, wann das Ende kam.
Wenn ich mich schließlich auf den Rückweg zu meinem Auto machte, konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Ich schwor mir immer wieder, dass es vorbei war, ein für alle Mal vorbei. Ich betete um Vergebung, und es gab Zeiten, in denen ich mich umbringen wollte.
Aus einem Menschen, der davon geträumt hatte, sich die Welt zu erobern, war ein Mensch geworden, der sich selbst hasste.
Aber so gern ich auch aufhören wollte, so gerne ich sterben wollte - der Drang überkam mich doch immer wieder. Ich kämpfte gegen ihn an, bis ich nicht mehr konnte, und dann sagte ich mir, es sei ja nur noch
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