Wehrlos vor Verlangen
„An einem Punkt schien es sogar völlig hoffnungslos. Mein Vater tat alles, um ihr zu helfen. Wenn Mum ins Krankenhaus musste, haben wir abwechselnd an ihrem Bett gesessen. Es ist seltsam, wie langsam die Stunden vor Tagesanbruch dahinschleichen“, flüsterte sie. „Du bist müde, aber du kannst nicht schlafen, und du wagst es nicht, dich auch nur einen Meter vom Krankenbett zu entfernen. Und wenn das Morgenlicht dann durch die Jalousien fällt, betest du, dass dieser neue Tag vielleicht der Wendepunkt ist, dass er irgendeine Verbesserung bringt.“
„Ja.“ Thanos’ Stimme klang rau. Tahlia drehte den Kopf und erkannte die Qualen auf seinem Gesicht. „Und am Ende des Tages, wenn alle Hoffnung umsonst war, betest du, dass vielleicht der nächste Tag das bringt, worauf du so verzweifelt wartest. So geht es Tag um Tag, Woche um Woche. In Melinas Fall waren es Monate.“
Vor Schreck schlug Tahlia die Hand vor den Mund. Wie hatte sie nur so unsensibel sein und das Thema Krankenhaus aufbringen können, nachdem Thanos’ Schwester wochenlang im Koma gelegen hatte? Seit sie von dem schrecklichen Unfall der jungen Griechin erfahren hatte, quälten sie Schuldgefühle, dass sie Melina damals hätte nachgehen sollen.
„Ich kann nur ahnen, wie schrecklich es gewesen sein muss“, flüsterte sie. „Waren auch deine anderen Familienmitglieder da, um mit dir an ihrem Bett zu wachen?“
„Es gibt keine andere Familie mehr. Unsere Mutter starb, als Melina fünf war. Ich habe sie aufgezogen. Zuerst kamen wir bei einer alten Tante unter, aber sie ist ebenfalls wenige Monate später verstorben. Danach blieben nur wir beide.“ Ein Muskel zuckte an seiner Wange als Zeichen der Anstrengung, mit der er seine Emotionen unter Kontrolle hielt. „Zuerst sah es so aus, als würde Melina nie wieder aufwachen und ich als Einziger überlebender Savakis übrig bleiben.“
Wie allein muss er sich gefühlt haben, dachte Tahlia. Impulsiv legte sie eine Hand auf seinen Arm. Als er sich versteifte, wurde ihr jäh klar, wie dumm diese Geste war. Sicher, er hatte jetzt den Beweis, dass sie nicht die Geliebte seines Exschwagers gewesen war. Trotzdem gab er ihr noch immer die Schuld am Unfall seiner Schwester. Hastig wollte sie ihre Hand zurückziehen, doch erstaunlicherweise hielt er ihre Finger fest.
„Wie geht es deiner Mutter jetzt?“
„Sie ist komplett genesen, dem Himmel sei Dank. Es ist ein Wunder, selbst die Ärzte sagen das.“ Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Dad war außer sich vor Freude, als wir die Nachricht erhielten. Darum war es ja auch so … so grausam, dass er am gleichen Tag erfahren musste, dass die Bank drohte, Carlton House zwangszuversteigern. Dad hat eine Hypothek auf das Haus aufgenommen, um Reynolds Gems liquide zu halten“, erklärte sie auf Thanos’ verständnisloses Stirnrunzeln hin. „Meine Mum ahnt nicht, wie schlimm es um uns steht. Sie freut sich auf ihren Lebensabend in Gesundheit in dem Haus, das seit Generationen ihrer Familie gehört. Und das wird auch so sein!“, verkündete Tahlia jetzt energisch. „Meine Eltern sind zwei Jahre durch die Hölle gegangen. Sie haben es verdient, glücklich und sorgenfrei zu leben. Dad war so erleichtert, als er hörte, dass Vantage bereit ist, Reynolds Gems aufzukaufen. Dann kann er die Hypothek zurückzahlen, und Carlton House ist sicher …“
„Deshalb hast du dich also an mich verkauft?“, fragte Thanos grimmig, als er die Zusammenhänge erkannte.
Sie kaute an ihrer Lippe und spürte die neuerliche Wut in ihm. „Ja“, gab sie zu.
„ Theos !“, explodierte er. „Warum hast du nichts davon gesagt, dass das Zuhause deiner Eltern auf dem Spiel steht?“
Völlig verdutzt sah Tahlia ihn an. „Warum sollte dich das denn interessieren? Du hattest doch sehr deutlich gemacht, dass du meinem Vater nicht helfen willst. Die Zeit wurde knapp. Es war klar, dass ich so schnell keinen anderen Käufer mehr finden würde. Das Einzige, was du wolltest, war mein Körper“, endete sie rau.
Ein drückendes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Thanos konnte Tahlia nicht ansehen. Brennende Schuldgefühle quälten ihn, weil er sie so falsch beurteilt hatte. Sie war keineswegs ein unmoralisches Luder wie die Geliebte seines Vaters. Es ging ihr nicht um die eigene finanzielle Absicherung, im Gegenteil. Sie hatte ihre Eltern absichern wollen. Um ihr Zuhause zu erhalten, hatte sie das ultimative Opfer gebracht und dabei gewusst, dass er sich für
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