Weiberregiment
der Thron des Herzogs an Prinz Heinrich von Zlobenien gehen! Ist das zu fassen? Deshalb sehen wir sie nie, kapiert? Und in all den Jahren hat es kein neues Bild von ihr gegeben. Das gibt einem zu denken. Angeblich trauert sie wegen des jungen Herzogs, aber er ist vor mehr als siebzig Jahren gestorben! Man munkelt, dass sie insgeheim begraben wurde und…
An dieser Stelle hatte ihr Vater den Sprecher unterbrochen.
Manchmal möchte man vermeiden, dass sich die Leute daran erinnern, dass man sich während eines bestimmten Gesprächs im gleichen Zimmer aufgehalten hat.
Ob lebend oder tot, die Herzogin sah und hörte alles.
Die Rekruten versuchten zu schlafen.
Gelegentlich rülpste jemand oder ließ laut einen Wind streichen, und Polly steuerte einige falsche Rülpser bei. Das schien die anderen Schläfer zu größeren Anstrengungen anzuspornen, und erst als das Dach klapperte und Staub herabrieselte, kehrte wieder Ruhe ein. Ein- oder zweimal hörte sie, wie jemand nach draußen trat in die windige Dunkelheit, rein theoretisch mit der Absicht, den Abort aufzusuchen. Aber angesichts der männlichen Ungeduld wurde die Angelegenheit vermutlich nicht ganz so weit entfernt erledigt. Einmal, halb in einem Traum, hörte Polly jemanden schluchzen.
Sie achtete darauf, nicht zu laut zu rascheln, als sie den mehrmals gefalteten, viel gelesenen und sehr fleckigen letzten Brief ihres Bruders hervorholte und ihn im Licht einer einzelnen, tropfenden Kerze las. Die Zensoren hatten ihn geöffnet und den Text verstümmelt, und er trug den Stempel der Herzogin. Pollys Bruder schrieb:
Ihr Lieben,
wir sind in █████. und das ist ████ mit ███ große Sache, und wie. Am ████ werden wir █████, und das ist gut so, denn ██ draußen. Es geht mir gut. Das Essen ist █████ und ██ wir █ bei ███. aber mein Kumpel ███ meint, keine Sorge, bis ████ ist alles vorbei, und wir werden Medaillen bekommen.
Kopf hoch!
Paul
Der Brief war in der sehr sauberen Handschrift von jemandem verfasst, der beim Schreiben jedes einzelnen Buchstabens große Sorgfalt walten ließ. Paul hatte sich Medaillen gewünscht, weil sie glänzten. Das war vor fast einem Jahr gewesen, als jede Rekrutierungsgruppe fast ein ganzes Bataillon versammelte, als Fahnen wehten und Musik spielte. Gelegentlich kehrten jetzt einzelne Gruppen von Männern heim. Den Glücklicheren unter ihnen fehlte nur ein Arm oder ein Bein. Es wurden keine Fahnen geschwenkt.
Polly entfaltete ein anderes Stück Papier, ein Flugblatt mit der Überschrift: »Von den Müttern Borograwiens!« Die Mütter Borograwiens ließen nicht den geringsten Zweifel daran, wie sehr sie wollten, dass ihre Söhne gegen den zlobenischen Aggressor in den Krieg zogen, und sie unterstrichen dies mit vielen Ausrufezeichen. Das war seltsam, denn die Mütter in Münz schienen sich nicht sehr darüber zu freuen, dass ihre Söhne in den Krieg zogen; sie versuchten sogar, sie daran zu hindern. Trotzdem waren irgendwie mehrere Exemplare des Pamphlets in jedes Haus gelangt. Es klang alles sehr patriotisch. Mit anderen Worten: Es ging darum, Ausländer zu töten.
Polly hatte einigermaßen Lesen und Schreiben gelernt, weil das Gasthaus groß und ein Geschäft war, weil die Dinge kontrolliert und aufgeschrieben werden mussten. Ihre Mutter hatte sie Lesen gelehrt, wogegen Nuggan keine Einwände erhob, und ihrem Vater verdankte sie, dass sie schreiben konnte, und das gefiel Nuggan nicht. Pater Joppe hatte eine des Schreibens kundige Frau als Abscheulichkeit klassifiziert, was bedeutete: Was auch immer sie schrieb, war per definitionem eine Lüge.
Aber Polly lernte das Schreiben trotzdem, weil Paul es nicht lernte. Sie lernte es gut genug, um ein Gasthaus zu leiten, in dem ein so großer Betrieb herrschte wie in der »Herzogin«. Paul konnte lesen, wenn er mit dem Finger ganz langsam den Zeilen folgte, und er schrieb Briefe im Schneckentempo, mit großer Sorgfalt und unter schwerem Atmen, wie jemand, der ein Schmuckstück zusammensetzte. Er war groß, gutmütig und langsam, konnte Bierfässer wie Spielzeuge heben, aber mit Schreibarbeiten kam er nicht gut zurecht. Ihr Vater hatte Polly sehr sanft, aber auch sehr oft darauf hingewiesen, dass sie direkt hinter ihm stehen musste, wenn die Zeit für ihn kam, sich um das Gasthaus zu kümmern. Wenn es niemanden gab, der ihrem Bruder sagte, was er als Nächstes tun sollte, stand er einfach nur da und
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