Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
Wein, und dabei wob das Licht der Kerzen einen warmen Schein um das junge Gesicht. Der Mann hatte eine Bibel aufgeschlagen, und seine Stimme war hell und klar, als er die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium las.
Ich brauche wohl nicht zu sagen, was ich da in der Heiligen Nacht auf den Feldern von Bethlehem empfand. — Die Nacht war klar und kühl, und wir brachen das Brot und tranken den Wein und während tausende Sterne am Himmel blinkten, sangen wir das Lied von der Heiligen Nacht.
Ich war in dieser Nacht der Krippe und dem Stall, ich meine «der rechten Weihnacht» sehr nahe gekommen.
Otto Kretschmer
Überraschung am Heiligen Abend
Weihnachten — dieses Wort klingt in aller Welt, wo Weihnachten gefeiert wird, wie ein Zauberwort. Wer denkt dabei nicht an all die tausend Dinge, die dieses Fest verschönern? Besonders die Kinder freuen sich darauf und sind verzaubert von dem Geheimnis der Heiligen Nacht. Da öffnet sich für sie die Tür, die sonst verschlossen scheint; die Spannung löst sich und eine unwirkliche Verklärtheit legt sich über die glücklichen Augen und die erregten Herzen.
Gerade in meiner Heimat Schlesien wurde dieses Fest mit einer Innerlichkeit begangen, wie ich sie nirgendwo wieder empfunden habe. Deshalb bewahre ich diese Kindheitseindrücke selbst noch als Erwachsener tief in der Erinnerung.
Meine Mutter und ich lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen. Mein Vater war früh verstorben; meine Mutter erhielt nur eine niedrige Witwen- und Waisenrente. Deshalb mußte sie noch nebenbei Heimarbeit verrichten. Niemals werde ich es vergessen, wie sie es ermöglichte, mich aufs Gymnasium zu schicken. Trotz der materiellen Nöte, zählen unsere gemeinsamen Weihnachtsfeste zu den schönsten Festtagen, die ich in all den Jahren erlebte.
Gemeinsam schmückten wir am Tag vor dem Heiligen Abend den Christbaum: meistens eine Fichte. Die zahlreichen Kartons mit den bunten Kugeln, den klingenden Glocken, den Vögeln, Engeln und anderen Figuren, Geschenke einer lieben Bekannten, standen nebeneinander. Abwechselnd griffen wir danach, um den Schmuck am Baum sorgfältig zu verteilen. Bevor ich das glitzernde Lametta einzeln oder in Bündeln über die Zweige fallen ließ, steckte ich die Kerzen auf. Alles geschah mit viel Sorgfalt und Liebe, ja, geradezu mit Andacht, was man heute selten findet.
Stand der Baum herrlich geputzt im Zimmer, konnte das Fest beginnen. Mit klopfendem Herzen stapfte ich am Christabend an der Seite meiner Mutter durch den hohen Schnee zur Kirche. In Schlesien lag zur Weihnachtszeit immer dicker Schnee wie Polster auf Straßen und Häusern.
Ich hatte einen Freund, er hieß Hans und galt als ein Sohn wohlhabender Eltern. Diesen sozialen Unterschied habe ich nie bewußt empfunden, weil wir uns großartig verstanden und niemals über Geldfragen diskutierten. Jahrelang galten wir als unzertrennlich. Nur ein einziges Mal kam mir der Gedanke, Hans müsse reich sein: als er im ersten Jahr unserer Freundschaft mich am Nachmittag des Heiligen Abends aufsuchte und mir ein Geschenk brachte. Mutter und ich blickten fasziniert auf das kleine runde Päckchen, das er mir zusammen mit Äpfeln und Nüssen überreichte. Kaum traute ich es auszupacken. Seine aufmunternden Worte ließen mich schließlich das Papier entfernen. Zum Vorschein kam ein rotbackiger Apfel, in den Kerben geritzt waren. In den Kerben steckten ein Fünfmarkstück und mehrere Markstücke.
Wir trauten unseren Augen nicht und brachten kaum ein Wort über die Lippen. Unsere eigenen Kinder werden antworten: «Wenn’s weiter nichts ist! Da bekommen wir heute ganz andere Geschenke!» Das stimmt gewiß. Damals aber, als meine Mutter im Monat eine minimale Rente bekam, bedeuteten die Geldstücke im Apfel — zumindest für uns — eine wertvolle Gabe. Wir schauten und staunten immer nur und wußten nicht, wie wir dafür danken sollten. Hans lachte nur, lud mich für den ersten Feiertag nachmittags zu sich ein und verabschiedete sich.
Mutter und ich blieben mit klopfendem Herzen zurück. Kaum wagten wir, den Apfel mit den Geldstücken anzufassen. Ein beglückendes Gefühl überkam uns: als seien wir soeben nicht allein beschert worden, sondern als habe uns der Atem eines Engels gestreift, um uns jenen Zauber der Heiligen Nacht zu vermitteln, den damals die Hirten auf dem Felde empfanden, als ein Engel zu ihnen trat und die Geburt des Herrn verkündete. Wir fühlten uns eingeschlossen in die Gemeinschaft der
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