Weihnachtskatze gesucht
zu lernen.«
»Ja, weiser Ormuz, lehre mich. Ein Kater aus meinem früheren Heim sagte einmal, dass die Ältesten und Weisesten sich an viel erinnern können. Er selbst wusste von zwei Leben vor dem jetzigen. Warst du schon oft auf dieser Welt? Und wird Ritzi wiederkommen? Und wo ist sie jetzt? Und was hast du …«
»Genug, genug, SueSue. Eine Frage nach der anderen.«
»Schuldigung, ja.«
»Ritzi wandert nun auf den Goldenen Steppen.«
»Hört sich schön an.«
»Es ist auch schön. Es sind die Gefilde, in denen wir vergessen können, welche Beschwernisse wir in unserem irdischen Leben erlitten haben. Wir legen beim Eintritt unseren Pelz ab und mit ihm alle Wunden, Narben und Schmerzen.«
»Ohne Pelz?« SueSue betrachtete ihren lockigen Rücken. »Wird komisch aussehen.«
»Nein, tut es nicht. Alle Katzen auf den Goldenen Steppen tragen ein graues Schattenfell.«
»Ups!«, sagte SueSue und betrachtete den grauen Kater mit neuen Augen. »So ist das also.«
»Ja, so ist das.«
»Und wie lange bleibt man auf den Gefilden?«
»Ihr jungen Katzen bleibt, bis ihr geheilt seid von dem, was immer euch widerfahren ist, dann werdet ihr gerufen, und euch wird ein neuer Pelz verliehen, in dem ihr in das nächste Leben eintretet.«
|96| »Du meinst, ich habe diesen Pelz zugewiesen bekommen? Mitsamt den zu kleinen Ohren?«
»Die Kammerkatze, die die Pelzmäntel verwaltet, ist eine sehr weise Persönlichkeit, sie weiß, mit welchem Aussehen die nächste Lektion gelernt werden muss.«
Eine Weile knabberte SueSue an dieser Erkenntnis. Dann drängte die nächste Frage aus ihr heraus.
»Warum kann ich mich nicht erinnern, Ormuz? Wenn ich doch schon mal gelebt habe und so?«
»Dies ist, wenn mich nicht alles täuscht, dein zweites Leben. Die Fähigkeit zur Erinnerung wächst über die Zeit. An eines kannst du dich doch schon erinnern, nicht wahr?«
SueSue sah den grauen Weisen überrascht an. Seine Schnurrhaare bebten leicht in einem kleinen Lächeln.
»Mit welchem Namen hast du dich mir vorgestellt?«
»Oh – mit Sescheschet. Das – mhm – ist mein Flüstername. Den kennt sonst niemand.«
»Außer dir. Woher, glaubst du, weißt du ihn?«
»Mhm – ich … ich erinnere mich einfach.«
»Du erinnerst dich, weil er dir mit Eintritt in das Leben, als deine Seele Form annahm und du deinen ersten Pelz erhieltest, gegeben wurde. Es ist das Erste, was eine Katze weiß, und das Letzte, was sie vergisst.«
Sinnend schaute SueSue über die Weide, doch sie sah die gemächlich wiederkäuenden Hochlandrinder nicht, die stoisch dem kalten Wind trotzten. Sie sah die Krähen nicht, die auf den Zaunpfosten saßen, und nicht die Spaziergänger, die mit ihren Hunden über die Felder wanderten. |97| Sie sah nicht die braunen, matschigen Wiesen – sie sah goldene Halme, die sich im warmen Sommerwind wiegten. Und sie fühlte eine tiefe Sehnsucht. Nicht nach den Goldenen Steppen, sondern nach etwas anderem. Etwas, das sie nicht ganz fassen konnte. Aber das Gesicht einer Menschenfrau tauchte plötzlich in ihrem Gedächtnis auf.
»Nicht alles, SueSue, vergisst man in den friedlichen Gefilden«, schnurrte Ormuz. »Eines bleibt uns immer, und das ist die Erinnerung an die Liebe. Sie ist es, die uns dazu bewegt, in das irdische Leben zurückzukehren. Liebe zu unseresgleichen, zu unserem Rudel, manchmal aber auch die Liebe zu einem Menschen.«
»Ritzi wird lange dort bleiben.«
»Wer weiß, SueSue.«
SueSue legte den Kopf auf die Pfoten und träumte vor sich hin. Von ihrem ersten Rudel, dem ihre Mutter vorstand, ihren eigenen Kindern, von Salvia und dem Friedhofsrudel.
»Mia war glücklich«, sagte sie leise. »Sie starb, weil sie alt und müde war.«
»Mia?«, ermunterte Ormuz sie zum Erzählen.
»Die Kätzin, der ich die halbverhungerten Welpen brachte. Sie hat sie noch gesäugt und ihnen die ersten Schritte gezeigt. Aber als die selbständig wurden, hat sie sich zurückgezogen, und niemand hat sie mehr gesehen. Ich habe mich der Tolpatsche angenommen. Kannte das ja, mit den Jungkatzen. Aber meine wurden mir immer sehr bald fortgenommen. Es hat mir Spaß gemacht, die |98| Kitten zu lehren.« Plötzlich kicherte SueSue. »Was die alles angerichtet haben. Eine von ihnen war furchtbar neugierig und gleichzeitig entsetzlich schreckhaft. Ich hatte ihr gerade gezeigt, wie man eine Spinne aufstöbert. Die saß unter einem Stein, der wie ein Buch aussah, nur dass man nicht darin blättern und die Krallen in die Seiten schlagen konnte.
Weitere Kostenlose Bücher