Weihnachtszauber 02
den Rand ihrer Kakaotasse und blickte zu dem leeren Stuhl am Frühstückstisch. Ihre Schwester war nicht erschienen. Offenbar schmollte Ginny immer noch. Auch den gestrigen Abend hatte sie in ihrem Zimmer verbracht und war nicht einmal zum Dinner heruntergekommen. „Das muss aufhören“, murmelte Mary.
„Wie bitte, Mylady?“, fragte das Dienstmädchen, das im Begriff war, den Toast aufzufüllen.
„Fühlt sich meine Schwester nicht wohl?“, fragte Mary zurück.
„Ich weiß es nicht, Mylady. Ich bin Miss Smythes Zofe heute Morgen noch nicht begegnet.“
„Dann werde ich besser einmal nachsehen.“ Mary legte die Serviette neben den Teller und erhob sich, bemüht, ein freundliches Lächeln zu bewahren, während sie das Frühstückszimmer verließ und nach oben ging. Ob Ginnys Temperamentsausbrüchen und ihren unaufhörlichen Zwistigkeiten tratschten die Dienstboten sicherlich bereits genug über sie.
Fest klopfte Mary an die Tür von Ginnys Schlafzimmer. „Ginny, du musst etwas essen, sonst wirst du noch krank!“
Sie erhielt keine Antwort. Mary öffnete bedächtig die Tür und spähte ins Schlafzimmer, sich innerlich für weitere Tränen wappnend.
Das Zimmer lag im Dunkeln. Die Vorhänge waren vorgezogen. Voll banger Vorahnung zog Mary sie auf und ließ das helle Licht der Morgensonne hereinströmen, ehe sie sich nach Ginny umsah.
Ihr Bett war indes unberührt, die Frisierkommode abgeräumt. Die Türen des Kleiderschrankes standen weit offen, und Mary entdeckte, dass mehrere Kleider fehlten.
Einen Augenblick lang stand sie wie angewurzelt da, sicher, sich das alles nur einzubilden. Gewiss hatte Ginny ihr bloß einen Streich gespielt, um sich zu rächen, weil sie bei den Eltern kein gutes Wort für Captain Heelis eingelegt hatte. Dann aber fiel ihr Blick auf das Blatt Papier, das auf dem Kopfkissen lag.
Es war mit Ginnys schnörkeliger Handschrift beschrieben. Sie nahm es zur Hand und las: „Allerliebste Mary! Ich bedaure zutiefst, dass ich Dir dies antun muss, nachdem Du Dich mir gegenüber so freundlich gezeigt hast. Ich fürchte indes, mir bleibt keine andere Wahl. Ich liebe Captain Heelis von ganzem Herzen. Wir wissen, dass wir zusammengehören. Während Du dies liest, sind wir auf dem Weg nach Gretna Green. Bitte vergib mir, geliebte Schwester, und freue Dich für uns.
In Liebe,
Ginny“
Oh, dieses dumme, törichte Mädchen, dachte Mary und zerknüllte das Blatt, während ihre Gedanken rasten. Ihre Eltern würden fuchsteufelswild werden.
Sicherlich würden sie Ginny finanziell nicht mehr unterstützen und sie selbst für diesen Vorfall verantwortlich machen, weil sie nicht gut genug auf ihre Schwester aufgepasst hatte. Die Familien Smythe und Derrington würden Mittelpunkt eines Riesenskandals werden. Nicht auszudenken, wo doch die Familie ihres verstorbenen Gatten so stolz auf ihren guten Namen war.
Es sei denn ...
Es sei denn, sie könnte das Liebespaar aufhalten, bevor jemand erfuhr, dass die beiden durchgebrannt waren. Wenn sie Ginny und Captain Heelis fand, bevor sie Schottland erreichten, konnte man diese Eskapade sicherlich geheim halten.
Und sie kannte nur eine einzige Person, die ihr bei diesem Vorhaben helfen konnte.
Mit der zerknüllten Notiz in der Hand eilte sie aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie wollte unverzüglich die Kutsche vorfahren lassen.
Mary verharrte auf der Türschwelle des vornehmen Stadthauses. Trotz der dicken Wollpelisse und des Schleiers an ihrem Samthut zitterte sie. Schon zweimal hatte sie sich vergewissert, ob die Adresse stimmte. Dennoch zweifelte sie daran, dass sie vor dem richtigen Haus stand, denn es wirkte so verlassen. Alle Vorhänge waren vorgezogen, und aus dem Schornstein kam kein Rauch. Auf ihr Klopfen öffnete niemand.
Mary blickte zum Himmel hinauf, der durch ihren Schleier grau und verschwommen wirkte, dann sah sie die Straße hinunter, die ebenfalls still und verlassen lag. Die Gegend indes machte einen respektablen Eindruck. Einen Augenblick lang bereute sie, dass sie die Kutsche nach ihrem Besuch bei den Quickleys nach Hause geschickt und zu Fuß zu Dominick gelaufen war, weil sie verhindern wollte, dass jemand erfuhr, wen sie besuchte.
Vielleicht war es nur gut, dass niemand ihr öffnete.
Sie wandte sich zum Gehen, doch da schwang die Tür plötzlich auf. Vor ihr stand jedoch kein Butler oder Lakai, sondern Dominick höchstpersönlich.
Ganz offenbar hatte sie ihn in einer privaten Stunde gestört, denn er trug
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