Weihnachtszauber 02
stand, deutlich bewusst, sah Amelia ihren Vormund über den langen Dinnertisch hinweg an. In seiner schwarzen Abendgarderobe sah er blendend aus. „Seien Sie versichert, Mylord, solch gewalttätige Gedanken hege ich nicht.“
„Nein?“ Ungläubig hob er eine Augenbraue.
In gewisser Weise hatte er recht. Als sie nach ihrem Gespräch am Nachmittag ihr Zimmer betreten hatte, war sie in der Tat so außer sich vor Wut gewesen, dass sie nicht wusste, ob sie etwas an die Wand werfen oder sich aufs Bett setzen und weinen sollte. Letztendlich hatte sie beides nicht getan, sondern war rastlos im Raum auf und ab gegangen und hatte versucht, sich zu erklären, warum sie solch widersprüchliche Gefühle empfand.
Gewiss war es der Traum einer jeden jungen Frau, eine Saison in London zu verbringen und in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Auch Amelia hatte in dem kleinen Dorf in Devonshire einst davon geträumt, als sie von den Bällen und Vergnügungen erfuhr, die London bot. Doch dem Kind eines einfachen Soldaten und der enterbten, verstoßenen Tochter eines Landadeligen waren solche Vergnügungen nicht vergönnt. Amelia wusste, für sie würde es immer ein Traum bleiben.
Daher hätte sie eigentlich von dem Vorschlag, im Frühjahr nach London zu reisen, begeistert sein sollen. Sie hätte bei dem Gedanken, neue Roben zu bekommen, an Bällen und Gesellschaften teilzunehmen und dort von all den ungeheuer gut aussehenden Gentlemen des ton umworben zu werden, außer sich vor Freude sein sollen.
Stattdessen aber verspürte sie Wut. Enttäuschung. Kummer.
Letztere Empfindung beunruhigte sie am meisten. Und Amelia fragte sich, warum Grays Bemühungen, das Beste für ihr Wohl zu tun, sie so sehr bekümmerten ...
Als sie jedoch vor dem Dinner einen Blick in sein arrogantes, anziehendes Gesicht warf, sah, wie elegant er in seiner Abendgarderobe wirkte, erkannte sie plötzlich den Grund für ihre rätselhaften Gefühle. Eine Saison in London reizte sie nicht, weil sie bereits bis über beide Ohren in einen ungeheuer gut aussehenden Gentleman der Gesellschaft verliebt war – Lord Gideon Grayson!
„Nein“, antwortete sie ihm nun mit belegter Stimme. „Ich mag zwar die Tochter eines Soldaten sein, Mylord, aber ich denke, ich bin nicht gewalttätig.“
Gray betrachtete sie skeptisch. „So, denken Sie das? Dann haben Sie womöglich bei mir eine Ausnahme gemacht.“
Leichte Röte überzog ihre Wangen, aber sie hielt seinem Blick stand. „Zweifellos!“
Gray lachte über die mangelnde Reue in ihrer Stimme unwillkürlich auf. Er fühlte sich erleichtert, dass Amelia endlich wieder mit ihm sprach. Während der beiden ersten Gänge des Dinners hatte ein unangenehmes Schweigen zwischen ihnen geherrscht.
„Gleich, was Sie auch glauben wollen, Amelia, insgeheim haben Sie durchaus das Zeug, ein blutrünstiger kleiner Fratz zu werden.“ Er hob sein Weinglas und prostete ihr zu, ehe er genüsslich einen Schluck trank.
Der Wein war ausgezeichnet. Und der Butler höchst aufmerksam. Auch das von Mrs Burdock zubereitete Mahl, das Watkins ihnen mithilfe von zwei Lakaien serviert hatte, war köstlich gewesen. Zufrieden stellte Gray fest, dass bereits nach einem Tag zumindest im Haushalt alles wieder ganz nach Wunsch lief.
Wenn er nur Amelia auch dazu bringen könnte, sich ein wenig zugänglicher zu zeigen
...
Sie sah wunderschön aus in ihrem cremefarbenen Seidenkleid. Es hatte einen tiefen, mit Spitze umrahmten Ausschnitt, der ihren bezaubernden schlanken Hals betonte.
Der helle Ton des Stoffes ließ ihre Augen noch blauer erscheinen, den Mund noch roter. Auch ihr Haar war an diesem Abend kunstvoller frisiert. Sie hatte es zu einem Wasserfall blonder Locken zusammengefasst, die ihr in bezaubernder Weise in den Nacken fielen und ihre zierlichen Ohren und makellosen Schläfen streichelten.
Gray musterte sie anerkennend über den Dinnertisch hinweg und konnte nicht umhin, festzustellen, dass sie äußerst begehrenswert aussah, wenn sie ihn so aufmerksam betrachtete ...
„Ich habe mich noch gar nicht nach Ihrer ... Verletzung erkundigt, Mylord.“ Amelia war nicht entgangen, dass er den linken Arm ein wenig steifer bewegte als den rechten. „Ich hoffe, sie verheilt gut?“
Ein abweisender Ausdruck trat in sein Gesicht. „Das wird sie zweifellos.“
Die ausweichende Antwort ließ sie die Augenbrauen heben. „Aber Sie wissen es nicht?“
Seine Miene verfinsterte sich noch mehr. „Ich sagte, es wird schon heilen,
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