Weil wir glücklich waren - Roman
gebeugt. Es war nicht zu übersehen, dass ich lesen wollte.« Sie schlug sich mit beiden Händen gegen die Stirn, genau wie mein Vater es getan hätte. »Schließlich habe ich zu ihm gesagt: ›Verzeihung, Sir. Ich muss arbeiten. Es tut mir leid, dass Ihnen langweilig ist. Aber das ist nicht mein Problem. Sprechen Sie bitte nicht mehr mit mir.‹ Ich glaube, ich habe ihn gekränkt. Er hat den Rest des Fluges geschmollt.«
Ich saß auf dem Rücksitz, hörte zu und fragte mich, was ich getan hätte, wenn ich im Flugzeug und Opfer dieses geschwätzigen Mannes gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte ich mich geärgert, aber er hätte mir auch leidgetan. Deshalb hätte ich mich mit ihm unterhalten und mich noch mehr geärgert - vor allem über mich selbst. Es gab vieles, was man an Elise bewundern konnte, wie ihren Mut und ihre Offenheit. Diese und andere Eigenschaften hatte ich mein Leben lang an ihr bewundert. Es war ein tröstlicher Gedanke, dass sie eine schlechte Wohnheimberaterin gewesen wäre, dass sie viel früher als ich die Geduld mit Marley verloren hätte. Aber eigentlich war ich mir gar nicht so sicher, ob das stimmte. Es war nicht Elises Job gewesen, sich mit dem Mann im Flugzeug zu unterhalten. Das hatte sie unmissverständlich klargemacht. Doch wenn es ihr Job gewesen wäre, hätte sie sich selbst übertroffen: Sie hätte ihn besser gemacht als jeder andere.
»So was passiert mir dauernd«, sagte meine Mutter. »Vor allem in Wartezimmern gerate ich immer an geschwätzige Leute, wenn ich eigentlich ein Buch lesen will. Aber ich bringe nie den Mut auf, klipp und klar meine Meinung zu sagen.«
Sie fuhr auf den Parkplatz einer Pizzeria und erklärte, dass an Heiligabend nicht viele Lokale geöffnet seien und ich keine Lust auf indisches Essen gehabt hätte. Als wir da waren, stieg sie auf der einen Seite aus, Elise und ich auf der anderen. In den wenigen Sekunden, die wir getrennt waren, hängte sich Elise bei mir ein und hielt ihren Mund an mein Ohr.
»Wie geht es ihr?«
Wir gingen los. Durch die Seitenfenster des Vans konnte ich den Kopf meiner Mutter sehen. Sie ging hinter dem Auto vorbei und kam auf uns zu. Ein paar Schritte nur noch, und wir wären wieder zusammen.
»Gut«, antwortete ich. »Es geht ihr ganz gut.«
Mit Elise Pizza zu bestellen war immer mit Verhandlungen verbunden. Die Regeln waren seit fast zwanzig Jahren festgelegt. Wir könnten Peperoni nehmen, wenn ich bereit wäre, grüne Paprika wegzulassen. Sie würde auf Oliven verzichten, wenn meine Mutter Ananas erlaubte. Sie wollte nur Pizzabrot, wenn es welches mit Käse gäbe. Als wir uns endlich einig waren, gab sie die endgültige Bestellung auf, legte alle unsere Speisekarten aufeinander und reichte sie der Kellnerin. Meine Mutter starrte auf die Tischkante und lächelte schief.
Ich schaute Elise an. »Kein Kaffee?«
Sie schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Wasser.
»Normalerweise bestellst du sofort einen. Du bist koffeinabhängig.«
»Ich beginne ein neues Kapitel.« Sie stieß unter dem Tisch gegen mein Knie. »Und wie läuft's auf dem College? Lassen sie euch schon an Leichen herumschnippeln?«
Meine Mutter runzelte die Stirn. »Elise. Wir wollen gleich essen.«
Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu. Sie war nicht etwa zimperlich, sondern hatte mir eine Auszeit verschafft.
Elise schnalzte mit der Zunge. »Wenn sie Ärztin werden will, sollte es ihr nichts ausmachen.« Aber jetzt sah sie meine Mutter an. »Dein Haar ist anders.«
Meine Mutter legte eine Hand an ihren Kopf. »Ich habe es vernachlässigt, ich weiß.«
Das stimmte. Mir war es vorher nicht aufgefallen, aber jetzt konnte ich sogar im gedämpften Licht der Pizzeria eine deutliche horizontale Linie in ihrem Haar sehen, fast auf einer Höhe mit ihren Ohren. Unter dieser Linie war ihr Haar ganz dunkel, genauso wie meins. Doch über der Linie zeigten sich dichte, graue Strähnen.
Elise nickte, sagte aber nichts weiter dazu. »Wie geht's dir im Einkaufszentrum? Gefällt es dir? Macht es Spaß?«
Meine Mutter nickte, nahm einen Schluck Wasser und lächelte. »Es geht«, antwortete sie. In der Mitte des Tisches standen eine flackernde Kerze in einem kleinen, roten Leuchter und eine Plastikkarte mit einer Liste der Spezialitäten der Woche. Die Liste war auf der einen Seite grün, auf der anderen rot und steckte ein bisschen schief in der Hülle. Meine Mutter nahm sie und studierte sie.
»Wie ist deine neue Wohnung? Wo ist sie?«
Meine Mutter schwenkte eine
Weitere Kostenlose Bücher