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Weil wir glücklich waren - Roman

Weil wir glücklich waren - Roman

Titel: Weil wir glücklich waren - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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da.«
    »Hm. Kennst du das chinesische Tattoo auf seinem Arm? Weißt du, was es bedeutet?«
    »Ich wusste nicht, dass du Chinesisch kannst, Tim.«
    »Ich habe es nachgeschlagen. Es heißt: ›Ich kann auch kein Chinesisch.‹«
    Ich stand auf und setzte mich gleich wieder hin. »Kommst du morgen Abend her? Du bist meine einzige Hoffnung. Ich werde in dem Turm hier gefangen sein. Komm mich retten!«
    Er lachte ein bisschen. »Gute Nacht, schöne Veronica. Wir sehen uns morgen Abend.«
    Ich saß noch fast eine ganze Minute lang da und hielt mir das stumme Handy ans Ohr. Ich hätte auf der Stelle einschlafen können, ohne mir auch nur die Schuhe auszuziehen. Am nächsten Morgen musste ich früh aufstehen. Jimmy Liff wollte mich um acht abholen. Er hatte gesagt, das sei der einzige freie Termin, den er vor dem Abflug habe, und er wollte mir zeigen, wie man zu seinem Haus kommt und wie man die empfindlicheren Pflanzen gießen musste.
    Ich zog Schlafanzug und Hausschuhe an, nahm meinen kleinen Korb mit Waschzeug und schlurfte zum Badezimmer am Ende des Gangs. Aber als ich mit frisch gewaschenem Gesicht und geputzten Zähnen in mein Zimmer zurückkam, ging ich noch nicht gleich ins Bett. Ich zerrte den schweren Holzstuhl vom Schreibtisch zum Schrank und stieg hinauf, um an das oberste Fach zu kommen. Dort oben bewahrte ich alles auf - Jahrbücher, Fotoalben, Schlittschuhe, eine Buchbesprechung, die ich auf der Junior High im Radio vorgelesen hatte -, all das, was eine Collegestudentin, die Eltern hatte, die noch miteinander verheiratet waren, wahrscheinlich zu Hause in ihrem Zimmer ließ.
    Ich fand den Pappkarton, den ich gesucht hatte, und setzte mich auf den Stuhl.
    Meine Mutter machte tolle Fotoalben. Meine Schwester und ich hatten jede unser eigenes, unsere Name waren im Kreuzstich auf die Vorderseite gestickt. Innen hatte sie jedes Bild mit Datum, Ereignis und dem Namen der Abgebildeten beschriftet. Früher, vor der Zeit der Digitalkameras, hatte sie manchmal den Hintergrund, wo er störte, mit der Schere abgeschnitten und unsere blitzlichtroten Augen mit einem braunen Marker übermalt. Doch sobald sie eine Digitalkamera hatte, konnte sie all ihre Energien auf die Gestaltung konzentrieren. Sie benutzte Tapetenstreifen für bunte Umrahmungen, legte Einladungen zu Partys und Nachrichten von Lehrern bei sowie eine gepresste Blume vom Anstecksträußchen meines Abschlussballs.
    Ich nahm ein Album nach dem anderen aus dem Karton, bis ich beim Hochzeitsalbum meiner Eltern angekommen war. Als ich das letzte Mal in der Wohnung meiner Mutter gewesen war, hatte sie mich gefragt, ob ich es aufheben wolle. Sie sagte, dass sie es nicht mehr haben wolle.
    Langsam blätterte ich die Seiten um. Die Kanten waren vergilbt, und einige der Bilder klebten an den glänzenden Zellophanhüllen. Als Kind hatte ich das Album so oft und so ausgiebig angeschaut, dass sich jedes einzelne Bild in mein Gedächtnis eingebrannt hatte: die kleine Campus-Kapelle, wo die Trauung stattgefunden hatte; der Priester, der vor einem blühenden Magnolienbaum stand; mein Vater, kaum wiederzuerkennen, jung und mager in seinem Smoking, das Haar bis über die Ohren fallend. Und meine Mutter, deren Haare bis zu ihrer Taille hinabhingen, in einem weißen Kleid mit weitem Rock und einer überdimensionalen Schleife auf der Brust. Sie war zweiundzwanzig und sah auf dem Bild glücklich aus, mit ihrem strahlendem Lächeln, den leuchtenden Augen und dem Wind in ihren Haaren und ihrem Schleier. Es gibt ein Bild von ihr und meiner mittlerweile verstorbenen Großmutter, auf dem beide so fröhlich aussehen, meine Großmutter mit einem hellblauen Hut, der Kopf meiner Mutter an ihrer Schulter. Es gibt ein Bild von meinen Eltern, wie sie zusammen die Hochzeitstorte anschneiden. Mein Vater sieht meine Mutter an und sagt etwas, und sie schaut in die Kamera und bemüht sich unverkennbar, nicht zu lachen.
    Es war schwer, gerade dieses Bild zu betrachten und bei dem Gedanken, wie alles ausgegangen war, nicht deprimiert zu sein. Ich verstand nicht, warum meine Mutter das mit dem schlafenden Dachdecker gemacht hatte - was auch immer es gewesen sein mochte -, warum sie unsere ganze Welt in diese fremde und chaotische Landschaft hatte stürzen lassen. Sie sei unglücklich gewesen, sagte sie. Ich starrte auf ihr junges Gesicht im Blitzlicht der Kamera und suchte nach einem Hinweis darauf, ob sie von Anfang an hätte ahnen können, wie sehr sich das, was sie sich an diesem Freudentag

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