Weil wir glücklich waren - Roman
beiläufig beim Namen nannte, als würde er sie schon ewig kennen. Sie war auf erbitterten Widerstand gestoßen.
»Bist du dir da sicher, Natalie?«, hatte er gefragt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt, sodass die Ellbogen zur Seite zeigten und der linke aus Versehen Elises Kopf streifte. Wir saßen alle in der Nische eines Pfannkuchenhauses, wo wir brunchten, und wir waren alle ein bisschen angespannt: Vorher hatten wir meine Großmutter väterlicherseits im Pflegeheim besucht, um ihr zu ihrem neunzigsten Geburtstag zu gratulieren. Meine Großmutter hatte niemanden außer meiner Mutter erkannt, was logisch war, weil sie es gewesen war, die sich in den letzten drei Jahren am meisten um sie gekümmert hatte.
»Du meinst, berufstätige Menschen mögen es nicht, wenn man sie beim Vornamen nennt?« Er hatte meine Mutter aus verengten Augen angesehen und seine Ellbogen noch weiter ausgestreckt. Elise, die schon aufs College ging und gerade die Herbstferien zu Hause verbrachte - wo sie sich ohnehin schon in jeder Beziehung eingeengt fühlte -, knurrte etwas Unverständliches und schob seinen Ellbogen von ihrem Kopf weg. Mein Vater entschuldigte sich und sah wieder meine Mutter an. »Stützt sich deine Behauptung auf irgendwelche Beweise? Oder hast du nur mehr ... äh, Verständnis für die arbeitende Klasse als ich?«
Meine Mutter hob ihren Blick nicht von der Speisekarte. »Meine Behauptung stützt sich auf die Tatsache, wie peinlich berührt sie aussehen, wenn du so vertraulich mit ihnen umgehst.«
»Dieser Kellner?« Mein Vater zeigte hinter sich. Gerade war unser Kellner - ein extrem gelangweilt aussehender Mann in den Dreißigern, der einen Knopf mit dem Aufdruck »Fragen Sie nach unseren Crêpes!« trug - in diese Richtung verschwunden. »Er hat gelächelt, oder? Er wirkte nicht peinlich berührt.«
»Er muss lächeln. Das ist sein Job. Wenn er nicht lächelt, bekommt er vielleicht kein Trinkgeld.«
»Wann hätte ich jemals kein Trinkgeld gegeben?« Er hielt seine ausgestreckte Hand mit der Handfläche nach oben über die Mitte des Tisches. »Ich bin sehr großzügig, was Trinkgeld angeht! Wovon redest du?«
Meine Mutter sah immer noch auf ihre Speisekarte, die ein Hochglanzfoto einer riesigen, von Sirup triefenden belgischen Waffel zeigte. »Das weiß ich, Dan«, sagte sie. »Wir alle wissen es. Wir alle wissen, dass du großzügig Trinkgeld gibst. Ich will damit bloß sagen, dass Kellner und Kellnerinnen lächeln, weil die meisten Leute ihr Trinkgeld danach geben, wie freundlich sie behandelt werden. Sie lächeln nicht, weil sie dich mögen oder weil sie es nett finden, wenn du sie bei ihren verdammten Namen nennst.«
Elise und ich wechselten einen Blick. Meine Mutter war normalerweise niemand, der »verdammt« sagte. Sie starrte immer noch auf das Foto der Waffel. Ihre Fingerspitzen waren bereits rot, ihr Griff um die Karte verkrampft. An diesem Morgen hatte uns die Schwester in dem Pflegeheim in die Empfangshalle begleitet und uns gesagt, dass die Vitalfunktionen meiner Großmutter trotz der unverkennbaren Senilität sehr stark seien. »Sie ist eine zähe, alte Dame«, hatte die Schwester gesagt. »Ich habe das Gefühl, dass das heute noch lange nicht ihr letzter Geburtstag war.« Genau in dem Moment hatte ich aufgeblickt und die Reaktion meiner Mutter gesehen - eine tiefe Stirnfalte, ein Schürzen der Lippen, ihre Angst und Müdigkeit, die nur einen Moment lang sichtbar wurden, bevor sie anfing, in ihrer Handtasche zu kramen.
»Okay.« Mein Vater beugte sich so weit über den Tisch, dass sein Gesicht nur noch ungefähr fünfzehn Zentimeter von der Kante der Speisekarte meiner Mutter entfernt war. »Jemanden beim Namen zu nennen bedeutet heutzutage also, ihn wie den letzten Dreck zu behandeln? Dann brauche ich wohl ein neues Handbuch für Benimmfragen. Vielleicht könntest du es für mich schreiben, Natalie. Denn ich verstehe diese Logik einfach nicht.«
»Du brauchst kein Handbuch, Dan.« Ihre Stimme war ausdruckslos und betont ruhig. »Denk einfach mal darüber nach. Oder versetz dich in ihre Lage. Frag dich, wie du dich fühlen würdest, wenn du zu jemandem nett sein müsstest, weil es dein Job ist, und dieser Jemand dich dann immer wieder bei deinem Vornamen nennt, als würde er dich kennen - was aber gar nicht der Fall ist.« Erst jetzt guckte sie ihn an. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Kiefer verspannt. »Frag dich mal, wie dir das gefallen würde.«
Er starrte sie lange an, bevor er
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