Weiss
erwarteten, dass sie demnächst neue Chefin des SIS wurde. Die Katze Violet schnurrte wie immer um ihre Beine.
Betha Gilmartin drehte den Hahn auf, das Plätschern des Wassers erinnerte sie an Nordirland und den Bach auf dem Bauernhof ihrer Eltern bei Newry. Sie dachte nur noch äußerst selten an ihre Kindheit. Vor einem halben Jahrhundert hatte sie beim Blick in den Bach das Spiegelbild eines wilden und unschuldigen Mädchens vom Lande gesehen, das seine Zeit am liebsten draußen in der Natur verbrachte. Jetzt jedoch starrte sie im Badspiegel eine übergewichtige, durch dreißig Jahre Büroarbeit zermürbte Frau an, die eher wie ein Kerl wirkte. Es stimmtesie traurig, dass sie sich nicht einmal mehr vorstellen konnte, was für ein Leben sie gehabt hätte, wenn sie, dem Wunsch ihres Vaters folgend, in Newry geblieben wäre und den Hof weiter bewirtschaftet hätte.
Das Leben war beim Kartengeben zuweilen so brutal, dass es schon fast komisch wirkte. Sie hatte am Vortag zwei Neuigkeiten erfahren: Nach Aussage ihres Vorgesetzten würde sie zum Jahreswechsel Chef des SIS werden, und nach Ansicht ihres Arztes dürfte sie diese Aufgabe nicht übernehmen. Sie litt unter einer angeborenen Herzkrankheit, die man zwar mit Medikamenten behandeln, aber nicht heilen konnte, und laut den Ergebnissen der letzten ärztlichen Untersuchung hatte sich ihr Zustand so sehr verschlechtert, dass sie möglicherweise in Lebensgefahr geriet, wenn sie den stressigen Job des Chefs annahm. Betha hatte den Arzt nachdrücklich drängen müssen, das Attest über ihre Arbeitsfähigkeit auszustellen. Und sie hatte ihm vorgelogen, alle seine Anweisungen pedantisch genau einzuhalten und sich zudem bald pensionieren zu lassen. Wenn sie also irgendwann tot umfiel, würde es mit großer Wahrscheinlichkeit bei der Arbeit passieren. Überraschenderweise beunruhigte sie das nur wegen Albert und Leo, die brauchten beide jemanden, der auf sie aufpasste.
Bethas Gedankengänge wurden unterbrochen, als Albert, der sich die Haare kämmte, in der Badtür erschien. »Was wollte Leo denn, der Junge steckt doch nicht etwa wieder in Schwierigkeiten?«
»Noch nicht. Er hat aus dienstlichen Gründen angerufen. Im UNODC gibt es Ermittlungen zu einer Serie von Ereignissen, die auch den SIS interessieren.«
»Ich frage gar nicht erst, worum es geht. Du würdest es mir sowieso nicht erzählen oder dir irgendetwas ausdenken. Schließlich habe auch ich in dem Vierteljahrhundert gelernt, dass man mit dir nicht auf kultivierte Weise über die Arbeit reden kann.«
»Geh du in deinen Buchladen und vergrab dich da, du Fossil«,entgegnete Betha bissig. Sie war wirklich nicht in Plauderstimmung. Nach dem Gespräch mit Leo machte sie sich ernsthaft Sorgen. Nicht, weil Leo etwas Bedeutendes herausgefunden hätte, sondern weil sie selbst auf etwas Wichtiges gestoßen war.
Betha ging in ihr Arbeitszimmer, schloss die Tür hinter sich und nahm eine ihrer Mappen zu Leo Kara heraus. Mit dem Eifer einer jungen, kaum vierzigjährigen Controllerin des SIS, die für den Bereich Großbritannien zuständig war, hatte sie die Ereignisse vom Oktober 1989 damals sofort und dann ununterbrochen über ein Jahr lang untersucht. Bei den Ermittlungen hatte sie Leo kennengelernt und sich mit ihm angefreundet, im Laufe der Zeit war ihr Verhältnis immer enger geworden. In all den Jahren hatte sie Informationen, die mit Leos Fall zusammenhingen, weiter gesammelt, ohne zu wissen, was sie mit ihnen anstellen sollte, und ohne es zu wagen, Leo mit ihren unbedeutenden Funden aus dem Gleichgewicht zu bringen.
»Eine Tasse Yunnan-Tee mit Honig und Zitrone«, rief Albert, stellte den Becher auf den Schreibtisch seiner Frau, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging zur Arbeit in sein Antiquariat in der Charing Cross Road, wie an fast jedem Werktag in den letzten sechsundzwanzig Jahren.
»Du bist ein Schatz«, sagte Betha zum Abschied, obwohl Albert die Tür schon geschlossen hatte. Sie klappte die Mappe auf. Der Fall vom letzten Frühjahr, als fünfundzwanzig Staaten der Sahel-Zone und der Sahara die UNO, den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank erpresst hatten, galt in den Unterlagen des SIS, der CIA und auch aller anderen führenden Nachrichtendienste als abgeschlossen. Aber in Betha Gilmartins Kopf war der Fall noch aktuell. Für die Entwicklung, die Tests, den Schmuggel und den Verkauf der Marschflugkörper in dem Konflikt vom vergangenen Jahr war ein Tscheche namens Viktor Hofman
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