Weiss
ausgesehen, als alles noch besser gewesen war. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Er sah eine gutherzige Frau, die alles Schöne genoss und nette Jungen mochte, genau so, wie Mutter ihn damals vor langer Zeit gemocht hatte.
***
Valeri stand an einem der großen Fenster seines Zimmers und schaute hinunter auf den Place Vendôme. Er wartete auf Mathilde. Die Umstände hätten auch schlimmer sein können. Manche seiner Kumpels mussten sich ihre Kunden in den mit besoffenen Touristen vollgestopften Gassen am Place de Clichy, Montmartre oder Pigalle selbst beschaffen; im Winter waren sie gezwungen, es ihnen halb umsonst zu besorgen, um sich aufzuwärmen, denn ohne Kunden durften sie nicht in die Zimmer. Und am armseligsten und gefährlichsten waren jene dran, die ihre Freier im Park Bois de Boulogne suchen mussten, der von den Perversen und Junkies beherrscht wurde. Er hingegen lebte in einer schönen, gut beheizten Wohnung und bekam anständiges Essen. Jedenfalls war das hier tausendmal besser als eine Zelle in einem ukrainischen Jugendgefängnis, selbst wenn
Madame
manchmal versuchte, ihren zwei Zentner schweren Körper in sein Bett zu zwängen.
Valeri betrachtete die Säule, die am Rande des Platzes in den Himmel ragte, und fragte sich, ob man das Bordell gerade deshalb in diesem Gebäude eröffnet hatte, weil die Kunden von hier aus einen vierundvierzig Meter hohen Penis sahen – die Vendôme-Säule. Die Statue »Mutter Heimat« zu Hause in Kiew war immerhin zweiundsechzig Meter hoch. Nachdem er ein Jahr in diesem geschlossenen Club gearbeitet hatte, wunderte er sich nicht mehr,warum Herrscher als Zeichen ihrer Macht Penis-Denkmäler errichteten. Die ganze Welt drehte sich um Sex, zumindest jene Welt, in der er jetzt lebte. Um Sex und Geld. Vor einem Jahr hatte ihm eine Kiewer Arbeitsvermittlungsfirma einen gutbezahlten Job in Frankreich zugesagt, er sollte Elektronikartikel, Bekleidung, Musik, vielleicht sogar Motorräder oder Autos verkaufen. Doch nach seiner Ankunft in Paris hatte man ihn gezwungen, sich selbst zu verkaufen, die Scheißkerle nahmen ihm den Pass weg und drohten ihm, seinen Geschwistern würden schreckliche Sachen passieren, wenn er die Kosten für das Flugticket und die Einreise nicht zurückzahlte. Auch jetzt versprach man ihm immer noch, dass er in ein paar Monaten eine normale Arbeit bekäme. Immer in ein paar Monaten.
Jemand klopfte energisch an die Tür. Valeri trank sein Wodkaglas aus, steckte ein Bonbon in den Mund und warf einen Blick in den Spiegel. In dem kurzärmligen weißen Hemd und den blauen Kniehosen, mit dem Schlips, dem roten Slipover und den Schnürschuhen sah er lächerlich aus. Das blaue Jackett würde er jedenfalls nicht anziehen. Wo hatte Mathilde bloß diese Schülerklamotten für ihn besorgt, die mussten etliche Jahrzehnte alt sein.
Gilbert Birou betrat Valeris Zimmer mit einem Lächeln, als Mathilde. Zu seinem Glück wusste er nicht, was hinter der Wand geschah. Das hätte den Höhepunkt seiner Woche ruiniert, die kurze Zeitspanne, in der er für eine Weile in die glückliche Zeit mit seiner Mutter zurückkehren durfte.
10
Freitag, 13. August
Kirill Butko, Major des weißrussischen KGB, setzte sich im Maxim-Gorki-Park im Minsker Stadtzentrum auf eine Bank, von der aus er sowohl das Observatorium als auch das Riesenrad des Vergnügungsparks sah. Doch er hatte den Platz beileibe nicht wegen der schönen Aussicht gewählt, sondern weil die brünette Frau auf der Bank fünfzig Meter von ihm entfernt die aus dem geheimen Forschungsinstitut in der Nähe von Osintorf geflohene Wissenschaftlerin war. Major Butko wusste über die Frau genauso viel wie über das Forschungsinstitut – nichts. Doch er verstand sehr wohl, dass die Frau wichtig war: Der KGB, die Streitkräfte, alle Milizeinheiten und die Grenzpolizei waren alarmiert worden, um die Wissenschaftlerin zu suchen, und die Macht, so einen Befehl zu geben, hatte in Weißrussland nur einer – Präsident Lukaschenko.
Schwerbewaffnete Soldaten der Spezialeinheit OMON in Kampfstiefeln, Tarnanzügen und mit schwarzen Baretten umzingelten die Frau so unauffällig, dass Kirill Butko sie erst bemerkte, als der Zugriff erfolgte. Dann rauschte es in seinem Polizeisprechfunkgerät, und der Leiter des OMON-Kommandos meldete, dass er die Frau in seiner Gewalt hatte.
Major Butko erhob sich und ging zu der Festgenommenen, die auf dem Rücken lag, man hatte sie zu Boden geworfen und hielt sie fest. Er holte das Foto der
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