Weiss
wusste nicht, wo wir uns befanden. Emma kannte die Gegend nicht, ich habe nicht geglaubt, dass sie Hilfe finden würde. Sie war zehn!« Karas Selbstbeherrschung versagte. Er musste tief durchatmen und einen Schluck Wein trinken. »Ich hatte Angst, dass man sich für Emmas Flucht an Vater und Mutter rächen würde. Oder an mir.«
»Was ist mit Emma geschehen?«
»Sie wurde zusammen mit Vater und Mutter umgebracht, ich weiß allerdings nicht, wie. Ich erinnere mich nicht. Mir graust schon bei dem Gedanken an den Tag, an dem ich das herausfinden werde. In der Fabrikhalle stand ein alter Koksofen, in dem die Leichen verbrannt wurden. Man hat eindeutig versucht, alle Beweise zu vernichten, ich weiß nicht, was schiefgelaufen ist, warum man mich nicht ins Jenseits befördert hat.«
Kati Soisalo verarbeitete Karas Bericht eine Weile, bemerkte dann, dass die Pasta auf dem Teller kalt geworden war und aß lustlos ein paar Bissen. »Ist das alles, was du noch weißt? Bist du sicher?«
»Ich bin mir bei gar nichts sicher«, antwortete Kara schon viel ruhiger. »Mit einer Ausnahme: Mundus Novus ist irgendwie in das verwickelt, was im Oktober 1989 geschah. Und Viktor Hofmans Arbeitgeber war Mundus Novus, deshalb will ich diesen Fall untersuchen. In diesem Chaos muss es irgendwo einen roten Faden geben.«
Kati Soisalo saß einen Augenblick regungslos da. »Vielleicht verstehst du doch, wie mir zumute ist«, sagte sie, stand auf und nahm Kara an der Hand. »Lass uns versuchen, eine Weile nicht an unangenehme Dinge zu denken.« Dann griff sie nach der Rotweinflasche und führte Kara ins Wohnzimmer. Sie hörten sich Musik von Sophie Zelmani an, die auf hypnotische Weise beruhigend wirkte, und redeten über dies und das, bis Kati Soisalo ins Bad ging und Wasser in die Wanne einließ. Kara begriff erst, was vor sich ging, als sie anfing, ihn auszuziehen.
12
Samstag, 14. August
Paul Wells, Entwicklungsingenieur für PLC bei Schneider Electric, war genauso begeistert wie immer, als er in Sellafield durchs Fenster des Kleinbusses das Gebäude B570 betrachtete – die Atommüllwiederaufbereitungsanlage THORP. Einige Vorsprünge der beigefarbenen und braunen Fassade des kastenförmigen Gebäudes waren rot gestrichen; die schräg auftreffenden Strahlen der Morgensonne ließen diese Stellen heller erscheinen. Der gewaltige Gebäudekomplex, der seinerzeit drei Milliarden Pfund gekostet hatte, war zweifellos der eindrucksvollste Anblick auf dem Kernkraftwerksgelände. Ein Besuch in THORP wirkte immer noch wie eine Visite in einem Raumschiff.
Am Haupteingang wurde Wells einer gründlichen Sicherheitskontrolle unterzogen und erhielt ein tragbares Strahlungsmessgerät sowie eine neue Ausweiskarte, die ausdrücklich zum Aufenthalt in THORP berechtigte. Schuhe, Handy und nicht dringend benötigte persönliche Gegenstände musste er in einem verschließbaren Fach zurücklassen. Dann war es Zeit, die blauen Wollsocken überzustreifen – Blau war die Kennfarbe der Firma BNFL, die THORP verwaltete. Im nächsten Raum zog er den bis zu den Knien reichenden blauen Mantel mit gelbem Kragen und dem Logo der BNFL an, der zugeknöpft werden musste, bevor er sich an den Schuhtresen setzen konnte. Auf der anderen Seite stellte ein Mitarbeiter von THORP die Schuhe auf den Fußboden. Wells drehte sich um hundertachtzig Grad und schob die Füße vorsichtig in die Schuhe. Wenn die Wollsocken den Boden berührten,war man gezwungen, wieder von vorn anzufangen und sich neue blaue Socken zu holen.
Noch eine Sicherheitskontrolle, bei der die persönlichen Gegenstände überprüft wurden, die der Besucher nicht in dem Schließfach zurückgelassen hatte, dann standen Wells die riesigen Räume von THORP zur Verfügung. In dem fünfhundert Meter langen Gebäude nahmen die Flure kein Ende, zuweilen musste er stehen bleiben und Kontrolltüren öffnen. Schließlich traf er in der Vorbereitungshalle ein, wo der verbrauchte radioaktive Kernbrennstoff aus den Sicherheitsbehältern entnommen und gelagert wurde, hier warteten die Atommüllzylinder auf den Transport in das Hauptlagerbecken. Wells ging weiter.
Noch ein paar Türen, eine lange Treppe, dann erreichte er das Herz von THORP, das Hauptlagerbecken, das so groß war wie zwei Fußballfelder. Hier wurden die Atommüllzylinder vor der Wiederaufbereitung fünf bis sechs Jahre aufbewahrt. Im Laufe dieser Zeit veränderte sich der Atommüll und bestand schließlich aus sechsundneunzig Prozent abgereichertem Uran, einem
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