Weiss
Paranoid musste herausfinden, was er bedeutete, mit etwas Glück half ihnen der Text womöglich weiter. Inzwischen würde sie nach Ylämaa fahren; wenn auch in der zweiten Agromasch-Verkaufsstelle gähnende Leere herrschte, gab es keinen Zweifel mehr, dass Marat Krylow Dimitri Arbuzow half, Menschen durch Finnland hindurch in andere europäische Länder zu schmuggeln.
Der Smart-Motor mit seinen einundsechzig PS lief den ganzen Weg von Karjaa nach Helsinki auf vollen Touren, Kati Soisalo kümmerte sich nicht um Blitzer, der Tacho zeigte hundertzehn an, schneller fuhr das Zwergauto nicht. In der Punavuorenkatu parkte sie ihren Wagen vor dem Haus, in dem Paranoid wohnte. Auf dem Fußweg drehte sie sich um, als sie Schritte hörte, die rasch näherkamen. Sie sah gerade noch ein schwarzes Tuch vor ihrem Gesicht, dann wurde es um sie herum dunkel und der glitschige Stoff drang in ihren Mund, als sie nach Luft schnappte. Sie trat um sich, wäre fast gestürzt und wollte den Angreifer zu fassenkriegen, aber blind konnte man nicht kämpfen. Jemand riss ihr die Hände auf den Rücken und fesselte sie, das alles geschah innerhalb weniger Sekunden. Kati Soisalo kam erst auf die Idee, um Hilfe zu rufen, als jemand sie im Genick packte, nach vorn beugte und in ein Auto stieß. Sie lag im Fußraum des Rücksitzes und spürte, dass etwas mit viel Kraft auf ihren Rücken drückte. Es gelang ihr nicht mehr zu schreien, selbst das Atmen tat weh.
»Versuchen wir dieses Treffen möglichst kurz zu halten«, sagte ein freundlich klingender Mann auf Englisch mit russischem Akzent. »Sie suchen Ihre Tochter, und wir wissen, wo sie ist.«
Die Freude verdrängte die Angst für einen Augenblick. Es stimmte also doch. Vilma war am Leben. »Wo ist meine Tochter?«
»Das erfahren Sie nicht. Bestimmte … Dinge lassen sich nicht rückgängig machen. Aber Sie können sicherstellen, dass Ihre Tochter nicht umgebracht wird. Hören Sie sofort auf, nach ihr zu suchen.«
Das Auto hielt an, Kati Soisalo wurde an den Füßen hinausgezogen und fiel auf den Asphalt, sie zerschrammte sich den Arm und hörte, wie der Wagen mit aufheulendem Motor wegfuhr. Ihre Hände waren immer noch auf dem Rücken gefesselt und ihr Gesicht bedeckt. Es dauerte eine Weile, ehe sie ihre Hände über das Hinterteil bis zu den Kniekehlen geschoben hatte, sie musste sich die Schuhe herunterstoßen, erst dann rutschten die Hände über die Fußsohlen nach vorn, nun konnte sie die Fesseln durchbeißen. Es schmeckte nach Plastik, und die Eckzähne taten weh, aber allmählich zerbrach die Fessel. Als sie schließlich ganz zerriss, zog sich Kati Soisalo die Kapuze vom Kopf und holte tief Luft. Ein Kabelbinder und ein Kissenbezug aus schwarzem Satin. Sie stand am nördlichen Ende des Kaivopuisto-Parks. Und zu ihren Füßen lag ein Briefumschlag.
Kati Soisalo öffnete ihn und zog ein Foto heraus. Die Tränen kamen ihr sofort, als sie ihre Tochter erblickte, sie sah Vilma nur verschwommen, so sehr sie sich auch die Augen wischte. IhrHaar wirkte nun ein bisschen dunkler. Ach, wie war das Mädchen gewachsen. Die Wangen waren nicht mehr so rund, die strahlend weißen Zähne schimmerten zwischen den lächelnden Lippen. Am unteren Rand war das Datum aufgedruckt, das Bild stammte aus diesem Sommer. Vilma sah ganz genauso aus wie sie als Kind. Endlich wusste sie mit Sicherheit, dass es Vilma gutging; instinktiv hatte sie das immer gewusst, aber die aussichtslose Suche über drei lange Jahre hatte dazu geführt, dass auch Zweifel aufkamen.
Und nun, als sie endlich die Gewissheit erlangt hatte, dass Vilma lebte, sollte sie darauf verzichten, nach ihr zu suchen.
***
Der Sattelzug vom Typ Scania R 500 passierte die Ortschaft Ylämaa in Südostfinnland und verließ die Landstraße 3864 in Richtung des Sees Metjärvi. Die Landschaft sah aus wie auf einer Ansichtskarte. Das Fahrzeug war vor einer knappen halben Stunde dreißig Kilometer entfernt an der vielbefahrenen Grenzübergangsstelle Vaalimaa aus Russland gekommen.
Als sie sich dem von Severnaja gemieteten Fabrikgebäude näherten, nahm Marat »Ratte« Krylow auf dem Beifahrersitz die Füße vom Armaturenbrett herunter. Es wunderte ihn, dass er bei so einer Fahrt immer noch nervös war, schließlich hatte er die Kontrollen an der Grenze zwischen Finnland und Russland schon Dutzende Male überstanden, obwohl im Fahrzeug sowohl menschliches Vieh als auch Drogen versteckt waren. Derjenige, der für die Bestechung der Grenzposten und
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