Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
hatte und die wohlige Wärme des Hochprozentigen im Magen spürte, ließ er sich zu einer Erklärung herab: „Das war ein einfacher Doppelkorn.“ Er lachte. Franz’ Gesicht lud ihn dazu ein. „Einfach, weil es kein Doppelter gewesen ist und Doppelkorn, weil er zweifach gebrannt wird.“
„Mein Gott, ich bin aber auch begriffsstutzig“, schalt sich Franz. Er stimmte in Ernsts Gelächter ein. „Gut, dass du mich vorhin zurückgehalten hast, ich hätte den Wirt beinahe einen Betrüger gescholten.“ Nach eingehender Musterung des Kneipenpublikums setzte er noch respektvoll hinzu: „Ich glaube, das wäre mir nicht gut bekommen.“
Das Geflügel wurde aufgetischt und diesmal lächelte Franz dem Wirt gewinnend zu, denn die Portionen sahen vielversprechend aus.
Der Wirt machte sich seinen eigenen Reim auf den Stimmungswandel seines Gastes, auch möglich, er hielt den fremden jungen Mann für launisch. Jedenfalls lächelte er zurück und entblößte dabei einen einzelnen gelben Zahn, der Franz an das hoch aufragende Kröpeliner Tor in der Stadtmauer erinnerte. Damit ihm die Gesichtzüge nicht wiederum entglitten, schaute er schnell auf seinen Teller und versuchte sich einzureden, der Wirt habe mit der Zubereitung seines Essens nicht das Geringste zu tun.
Ernst war nicht so empfindlich, vielleicht war ihm auch der unerfreuliche Anblick auf die Überreste eines Gebisses erspart geblieben. Er langte ordentlich zu und knabberte selig an seinem Vogel, froh darüber, seinem verräterischen Magen endlich etwas anbieten zu können. Das Weizenbrot war noch warm und knusprig und schmeckte zu dem gut gewürzten Fleisch einfach wunderbar.
Kaum dass Franz den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte, fragte er: „Warum schlitzt ihr Mediziner eigentlich so gerne Leichen auf?“
„Wie nett von dir, mich daran zu erinnern“, gab Ernst sarkastisch zurück. „ Den schlitzt ganz bestimmt niemand gerne auf, um mit deinen Worten zu sprechen.“
„Und warum macht ihr es dann?“
Ernst verdrehte die Augen und bedeutete Franz, nicht in der Gaststube darüber zu sprechen. Franz zog die Brauen hoch und öffnete schon den Mund, um die nächste Frage anzubringen, doch er kam nicht mehr dazu. Ernst sprang auf, und eilte davon. Franz sah ihm stirnrunzelnd nach. Bevor er sich ebenfalls erhob, leerte er seinen Bierkrug bis zur Neige und warf einige Münzen auf den Tisch. Dann folgte er dem Freund.
Ernst war offensichtlich verärgert, versuchte dies jedoch hinter einer gleichgültigen Miene zu verbergen.
Franz zog den Kopf ein, als befürchte er, ihn sich anzustoßen. „Was ... was hab’ ich falsch gemacht“, fragte er abbittend.
Ernst erweckte nicht den Eindruck, die Angelegenheit als erledigt abzutun, folgerichtig machte er seinem Ärger Luft. Kampfeslustig funkelte er Franz an. „Was meinst du wohl, warum es kaum Leichen für die Wissenschaft und die Ausbildung der Ärzte gibt, weil so wenig Menschen sterben?“, herrschte er ihn an.
Franz bemerkte den Zynismus und schaute betreten zu Boden. Er wusste, er teile die eigene Abneigung gegen das Sezieren mit den meisten Mitmenschen. Aber an der Seite des Freundes schämte er sich seiner ungenügenden Würdigung der Arbeit der „Leichenschlitzer“. Kein Verstorbener, der Angehörige hatte, wurde von der Familie für die Zwecke der Wissenschaft hergegeben. Zu tief saß der Glaube an die Auferstehung anlässlich des Jüngsten Gerichts, an dem der Körper in seiner Gänze teilhaben sollte.
Außerdem kursierten oft genug die gruseligsten Geschichten von Scheintoten, die in anatomischen Theatern zerstückelt worden seien.
„Entschuldige, Ernst, es war unüberlegt von mir, in der Kneipe davon anzufangen und dort herumzuposaunen“, sagte er schlicht.
Franz’ Einsehen stimmte Ernst versöhnlich und er machte sich daran, die Vorgeschichte zu seiner heutigen Nachmittagsbeschäftigung zu erzählen.
Bestürzung malte sich auf Franz’ Zügen, als er begreifen musste, es seien höchst eigene Befindlichkeiten gewesen, die Ernst zu seinem Versprechen bewogen hatten.
„Mein Gott, Ernst, es tut mir leid“, stammelte er und suchte nach Entschuldigungen. „Ich hoffe, du kannst dich trotzdem mit mir freuen, nicht Johann auf dem Tisch vorgefunden zu haben.“
Franz erhielt ein missbilligendes Kopfschütteln zur Antwort. Ernst wirkte etwas zu gelassen, als er schließlich sagte: „Glaubst du wirklich, ich stellte meine Verpflichtung, die ich gegenüber Professor Josephi eingegangen bin,
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