Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Auch Elvira hatte keinen Zutritt zu diesem kleinen Reich, das ihr für ein paar Schillinge überlassen worden war, um ganz für sich selbst zu sein.
Sie genoss den Augenblick der Freiheit, der ihr in diesem kleinen Käfig zuteil wurde. Abgeschirmt vor der Welt da draußen hatte sie Muße, ihrem Körper die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm bisher versagt worden war. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, ob Christian die Form ihrer Brüste und die Kurven ihrer Hüften gefallen würde, ob es sich genauso wie vorhin im Wasser anfühle, wenn seine Hände sanft über ihren Körper glitten.
Unterdessen hatte sich ihre Haut zusammengezogen, ihre Körperhärchen richteten sich auf. Ihr Anblick erinnerte eher an eine Weihnachtsgans, die der Zubereitung harrte, als an zarte glatte Haut eines jungen Mädchens. Schnell riss sie das Handtuch an sich und schlüpfte in die Pantöffelchen. Sie rubbelte ihre Haut etwas zu grob, als müsse sie sich für gehegte Gedanken und durchlebte Sehnsüchte bestrafen. Doch dann hielt sie inne.
Wer sollte ihr Sehnsucht nach Liebe und körperlicher Nähe vorwerfen. Niemand, nur sie war Herrin ihrer Gedanken, in die kein Mensch einzudringen vermochte. Nur vor Gott hatte sie sich zu verantworten. Doch sie war sich sicher, der Herr verfolge keinerlei Absichten, ihr die erste zaghafte Liebe anzukreiden. Hatte er ihr doch schon so unendlich viel Schmerz zugefügt, als er meinte, ihre Mutter zu sich holen zu müssen.
„Die Wege des Herrn sind unergründlich“, sagte sie langsam und feierlich. Mit dem Satz, so überlegte sie, könne man alles, aber auch nichts erklären. Versteckten sich die Menschen mit ihrem Tun nicht allzu gern hinter göttlichen Fügungen?
Der Zauber des Augenblicks war vorüber. Sie drehte ihrem Spiegelbild abrupt den Rücken zu und kleidete sich rasch an. Nur den Sitz ihrer Haube überprüfte sie mit einem letzten flüchtigen Blick in den Spiegel. Dann eilte sie aus der Enge ihrer Freiheit in die Weite ihres Gefängnisses zurück.
Johanna entdeckte Margitta und Elvira am Strand. Sie lief auf die Freundin zu und nahm sie bei der Hand, zog sie mit der einfachen Frage, wie es gewesen sei, mit sich fort. Elvira bemerkte, dass die Mädchen unter sich sein wollten und respektierte den Wunsch. Sie schlenderte ihnen in einem gewissen Abstand hinterher. Dabei schaute sie den vielen promenierenden Menschen zu, die sich überwiegend paarweise in unterschiedlichsten Gruppierungen zusammengefunden hatten. Respektable Ehepaare flanierten neben Kinderfrauen und deren Schutzbefohlenen, die sich zumeist lärmend und quengelnd zu entfernen trachteten. Gesetzte Herren lüfteten unaufhörlich ihre Hüte zum Gruße, dabei kaum ihre angeregte Unterhaltung mit dem Begleiter unterbrechend. Aber auch Liebespaare begegneten ihr am Strand und machten ihr die eigene Einsamkeit, trotz der vielen Menschen in ihrer Nähe, drückend bewusst.
In ihrer gewohnten Umgebung in Ludwigslust hatte sie ihre Einsamkeit kaum wahrgenommen. Sie war von ihrer Aufgabe und ihrer aufrichtigen Zuneigung zu Johanna und der gräflichen Familie zu sehr in Anspruch genommen worden, derlei Empfindungen überhaupt aufkommen zu lassen. Aber in Doberan und hier am Heiligen Damm kam sie sich deplatziert und wie ein Fremdkörper vor. Sie fühlte sich weder den kurenden Herrschaften noch den vielen Dienstboten zugehörig. Hatte sie sich bisher als Beschützerin Johannas verstanden, so musste sie jetzt einsehen, diese Rolle sei nicht mehr uneingeschränkt erwünscht.
Unvermittelt tat sich eine Kluft auf. In der Vergangenheit hatte sich Elvira in den gräflichen Haushalt eingefügt, jederzeit von uns gesprochen, wenn es darum gegangen war, Johannas Befindlichkeiten zu bestimmen, jedoch in diesem Augenblick am Strand wurde ihr klar, sie gehöre eben doch nicht dazu.
Wie würde ihr weiterer Weg aussehen? Ihr Schützling werde über kurz oder lang flügge, die Tatsache war unleugbar. Elvira fragte sich beklommen, ob sie darauf hoffen solle von Johanna als altes Inventar übernommen zu werden, ob sie auf zukünftige Pflichten warten solle, die ihrem Beruf entsprachen. In Elviras Falle durfte man auch von Berufung sprechen. Oder sollte sie einen Bruch wagen und ihr Leben in eine andere Bahn lenken? Doch dazu gehörte eine Ehe, die ohne heiratswilligen Mann schwerlich zu bewerkstelligen war.
Als Elviras Überlegungen an diesem heiklen Punkt angekommen waren, ließ sie ihre Blicke schweifen. Sie betrachtete vorüberschlendernde
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