Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
gefragt. Marie spielt schon seit ihrem zehnten Lebensjahr Orgel. Erstaunlich, nicht wahr? Sie hat trotz ihres Zustandes eine hohe Kunstfertigkeit erreicht. Damals glaubten alle Leute im Dorf, sie würde mit der Zeit völlig verblöden. Wissen Euer Gnaden, weshalb Marie nach einem Jahr von ihrer Tante weggeschickt worden ist?“
„Woher sollte ich, Stein.“
„Eleonore erzählte mir einmal ganz stolz, Marie sei in der dortigen Kirche während des Orgelspiels aufgestanden und hinauf zum Küster geklettert, und habe den Mann von dem Instrument fortgezerrt. Für ein dreizehnjähriges Mädchen eine kraftvolle Leistung. Aber der Küster war wohl zu verdattert, als dass er sich gewehrt hätte. Marie setzte sich an die Orgel und entlockte dem langjährig traktierten Instrument so virtuose Klänge, dass die Kirchgemeinde ehrfurchtsvoll erschauerte. Alle lauschten hingerissen dem Spiel. Die Blasebalgtreter sollen unheimlich ins Schwitzen geraten und anschließend völlig erledigt gewesen sein. Der verdrängte Organist bebte vor Zorn und sann auf Rache. Erste Unterstützung fand er naturgemäß bei den Blasebalgtretern. Er schaffte es aber, dem Pastor und der gesamten Kirchgemeinde einzureden, dies ginge nicht mit rechten Dingen zu, der Teufel müsse seine Finger im Spiel haben. Nun, der Pastor durfte nicht zulassen, dass der Bockfüßige in seiner Kirche Triumphe feierte und deshalb legte er Maries Tante nahe, das Mädchen wieder nach Hause zu schicken.“
„Tja, so ein Teufel hat es auch nicht leicht, macht ihn doch die gesamte Christenheit für jeden erdenklichen Unfug verantwortlich.“
Ein Hausmädchen schlüpfte ins Zimmer und meldete mit seinem dünnen Stimmchen: „Baron von Borowsky möchte Euer Gnaden seine Aufwartung machen.“
Borowsky wartete nicht auf die Genehmigung, eintreten zu dürfen. Er schob sich selbstbewusst in das Speisezimmer und eilte dem Hausherrn mit dem Ausruf entgegen: „Wollte nur nach dem Rechten sehen, verehrter Graf, und meine Hilfe anbieten. Meine Leute meldeten, in Richtung Hohen-Lützow einen Feuerschein gesehen zu haben. Ich bin nun erleichtert, Sie unversehrt und bei bester Gesundheit zu treffen.“
„Wir sind noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen, Baron.“
Die Männer trafen sich in der Mitte des Zimmers und schüttelten sich die Hände. „Dank meinem Herrn Stein, der sich als hervorragender Brandmeister entpuppt hat, und dem aufopferungsvollen Einsatz meiner Leute ist nur das Backhaus ein Raub der Flammen geworden, wobei ich fairerweise den Regen als Verbündeten erwähnen sollte.“
Auch Stein wurde von Borowsky in die handgreifliche Begrüßung einbezogen.
„Dann hat es also wirklich gebrannt und ich glaubte schon, mein Hundejunge wolle sich wichtig machen. War aber auch ein Wetterchen gestern Nacht, was? Bei meinen Bauern sehen die Kornschläge auch nicht besser aus als hier bei Ihnen.“
Der Graf winkte entnervt ab.
„Verschonen Sie mich mit Einzelheiten, die vormittägliche Bestandsaufnahme hat mich genügend erschüttert. Aber kommen Sie, wir machen es uns im Salon gemütlich, dort können wir das letzte Jahr Revue passieren lassen.“
Nachdem der Graf Stein mit einer angedeuteten Verbeugung entlassen hatte, führte er seinen Gast in den Salon.
„Sie haben recht, Graf, die Zeit rauscht nur so an uns vorüber und ich habe den Eindruck, die Angelegenheit wird immer rasanter, je älter ich werde. Letzte Woche habe ich Ihren Franz kennengelernt. Prachtvoller Bursche, auf den können Sie stolz sein.“
Der Graf lächelte höflich ob des Lobes auf seinen jüngeren Sohn und hoffte, auf Johann nicht angesprochen zu werden. Die Hoffnung währte nur kurz.
„Wo ist denn Johann? Mein Verwalter hat mir berichtet, der junge Herr von Klotz habe seinen diesjährigen Antrittsbesuch auf Karlsholz noch nicht erledigt. Der Junge wird mir doch nicht nachtragen, dass ich ihm im letzten Herbst den kapitalen Bock weggeschnappt habe, der aus Ihrem Revier zu mir herübergewechselt ist?“
Der Graf ertappte sich beim Zurechtlegen einer Ausrede. Doch dann kam er zu dem Schluss, es doch besser bei der Wahrheit zu belassen, zumindest bei einer etwas geschönten Wahrheit.
„Johann macht mir zurzeit nicht nur Freude. Er ist höchstwahrscheinlich in seiner verspäteten Sturm und Drang Phase. Soll heißen: Er tobt sich aus. Ich muss zugeben, keine Ahnung zu haben, wo er sich aufhält.“
„Ja, ja, die jungen Leute. Den einen trifft es früher, den anderen später. Irgendwann
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