Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Tochter niemals vermuten würde. In ihrer Not war sie bestimmt zuerst zum Pastor in die Pfarrei gelaufen.
In diesem Moment erhob sich Marie und steuerte auf die Tür zum Nebenraum zu, die Schlafkammer der beiden Frauen. Anne beachtete sie nicht, sondern hing weiter ihren Gedanken nach. Sie befürchtete, Elsi sei verärgert über ihr langes Ausbleiben, und ihre Mutter mache sich bereits Sorgen, wo sie nur bleibe. Aber der Gedanke, Marie alleinzulassen, behagte ihr auch nicht. Sie war im Begriff aufzustehen, um Frau Hagen wenigstens das Feuermachen abzunehmen, als sie im Nebenzimmer unartikulierte Laute vernahm.
Anne richteten sich die feinen Körperhärchen auf, eine Gänsehaut überzog ihre nackten Arme.
Die Stumme hatte abermals gesprochen!
Obwohl Anne gar nicht wissen wollte, was im Zimmerchen nebenan geschah, erhob sie sich und schob vorsichtig die Tür auf.
Anne wusste nicht, was sie erwartet hatte, jedenfalls war der Anblick dessen nicht geeignet, sie zu beruhigen. Jedoch den ersten Impuls, fortzulaufen und den Pastor zu holen, kämpfte sie tapfer nieder. Schüchtern trat sie ein und versuchte sich an einer Erklärung zu dem, was hier geschehen sein könnte.
Frau Hagen kniete vor dem einzigen Bett. Nein! Sie kniete wohl doch nicht, eher sah es so aus, als sei sie bäuchlings gefallen. Ihr Oberkörper lag mit seltsam verdrehten Armen im Bett.
Anne konnte das Gesicht der verrenkten Gestalt nicht sehen.
Marie hatte sich zu ihrer Mutter aufs Bett gesetzt und streichelte unaufhörlich deren Rücken.
Gemurmel hub an, allerdings war es viel deutlicher als das, was vorhin nur gedämpft durch die angelehnte Tür in die Küche gedrungen war. Zu Annes großer Erleichterung kam es nicht von Marie. Anne huschte auf die andere Seite der Bettstatt. Das Gesicht der älteren Frau war grau und eingefallen. Trotz der Kühle im Raum war ihre Stirn mit Schweiß bedeckt, er perlte ihr über die Schläfen und sickerte in grobe Kissen. Frau Hagen verfolgte Anne nur mit den Augen und das Mädchen meinte, sie lächelten. Die Beobachtung ermutigte sie.
„Geht es dir gut?“, schlüpfte es Anne über die Lippen, aber es war kaum heraus, da ärgerte sie sich über ihre dumme Frage, wo jeder, der Augen im Kopf hatte, sehen konnte, dass dem nicht so war.
„Ich, ... kann ich, kann ich dir irgendwie helfen?“, stammelte sie.
Das Lächeln in Frau Hagens Augen wurde lebhafter. Sie bemühte sich, reglos zu bleiben, doch ihr Körper schien furchtbar angespannt zu sein.
„Das Kopfkissen, schieb es mir unter mein rechtes Knie“, stieß sie hervor.
Die einfache Bitte überraschte Anne und löste die Starre, die sie regelrecht gelähmt hatte. Vorsichtig, damit sie Frau Hagen mit einer unbedachten Bewegung nicht noch mehr Schmerzen zufüge, versuchte sie, das Kissen unter dem linken Arm der Kranken fortzuziehen. Ein schwaches Stöhnen sagte ihr, es sei bei dem Versuch geblieben. Noch schwieriger erschien ihr die Aufgabe, das klumpige Kissen unter das Knie der Kranken zu schieben.
„Wie soll ich ...“, begann sie hilflos. „Ich glaube, ich werde dir wehtun“, jammerte sie.
„Mach schon ... , bist ein gutes Kind ... , ich beiß die Zähne zusammen ..., aber mach schnell!“ Die Satzfetzen kamen stoßweise, Frau Hagen brach vor Anstrengung neuerlich der Schweiß aus. Anne presste ebenfalls die Zähne fest aufeinander und schob, ohne sich vom Stöhnen der Kranken aufhalten zu lassen, das Kissen in die gewünschte Position. Als es geschafft war, herrschte Stille im Raum, nur Maries Hand fuhr mit leisem Rascheln über Frau Hagens Mieder.
„Jetzt ist es schon viel besser“, kam nach einer Weile aus den Kissen. Frau Hagen schaute Anne dankbar an. „Es ist nur wieder der Rücken“, beruhigte sie. Mit einem Blick in Richtung ihrer Schmerzen fuhr sie fort: „Sei so gut und hol Elsi. Elsi weiß, was zu tun ist.“ Völlig erschöpft schloss Frau Hagen die Augen.
Im Hinausgehen ließ Anne noch schnell einen Blick über Marie gleiten, die mit stoischer Gelassenheit die Mutter streichelte, ohne die schmutzige Puppe aus ihrem Arm gelegt zu haben. Draußen holte Anne tief Luft, froh darüber, Enge und Krankheit entkommen zu sein. Nach ein paar Schritten rannte sie los. Ihr Lauf über den weiten Wirtschaftshof, über die Brücke zum Vorplatz des Herrenhauses nützte nichts, ihre Gedanken holten sie ein. Anne beschloss, bei der erstbesten Gelegenheit die Köchin über Marie auszufragen, aber zunächst musste der armen Frau Hagen geholfen
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