Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
nicht, einen Blick zurück auf ihren Prinzen zu werfen.
Anne glaubte, die Halle ungesehen passieren zu können, als sie in ihrem Rücken die resolute Stimme der Köchin hörte. Sie blieb wie angewurzelt stehen, ihr Schützling folgte ihrem Beispiel.
„Marie, um Gottes willen, Marie!“, rief Elisabeth. In ihrer Stimme schwang unverhohlene Sorge. An Anne gewandt fragte sie hastig: „Was ist mit ihr?“
So viel Anteilnahme hatte Anne nicht erwartet. Sie drehte sich erleichtert um.
Elsi verhielt sich seltsam, sie schaute gehetzt umher, schien sich überzeugen zu wollen, ob Marie unversehrt sei und ob noch jemand Notiz von ihr genommen habe. Mit ihrem massigen Körper, der vor Nervosität zitterte wie ein gestürzter Pudding, schob sie die beiden Mädchen zur Tür hinaus. Draußen gab sie Anne noch knappe Anweisungen: „Du bringst das Mädel sofort nach Hause, dann bist du in der Küche und erzählst mir alles, klar?“
„Klar!“, gab Anne zurück.
Von einer unbestimmten Angst getrieben, Marie fest an der Hand haltend, beeilte sie sich, den Vorplatz des Herrenhauses zu verlassen. Sie mied den Wirtschaftshof und führte Marie auf einem Umweg über einen kleinen Trampelpfad zu den Katen.
Mehrmals musste sie haltmachen und Himbeerranken von Maries weitem Rock pflücken. Anne kam der Weg endlos lang vor und sie ertappte sich dauernd bei dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.
Verrückt, dachte sie, bis gestern ist mein Leben langweilig gewesen und heute passieren mir lauter seltsame Dinge.
Endlich waren sie bei der Schnitterkate angekommen, in der Eleonore Hagen, Maries Mutter, mit ihrer einzigen Tochter wohnte. Maries Vater Ernst, das war in der Gegend allgemein bekannt, war im Krieg gefallen.
Die Tür war nur angelehnt. Anne schob Marie in die Küche und half der Stummen auf einen Stuhl. Geschafft, dachte sie und ließ sich erleichtert auf den zweiten Stuhl fallen. Sie brauchte ein paar Atemzüge zum Verschnaufen, dann siegte die Neugier und sie sah sich um. Die Einrichtung unterschied sich nicht wesentlich von der, die sie von der elterlichen Behausung kannte. Neben zwei Stühlen, einem Tisch, einem Wandregal mit irdenem Geschirr, einem schäbigen Schrank und dem gemauerten Herd unter einem offenen Kaminabzug gehörte eine Wanduhr zur Ausstattung. Der Fußboden aus gestampftem Lehm war ordentlich gefegt und mit frischem Sand bestreut worden.
Anne wurde stutzig. Irgendetwas fehlte in dieser Küche. Das Mädchen überlegte angestrengt, bis ihm einfiel, was es vermisste: Es roch nicht nach gekochten Kartoffeln oder überhaupt nach etwas Essbarem. Wenn Mutter von der Arbeit nach Hause kam, kümmerte sie sich zuerst um die Vorbereitungen für das Abendessen der Familie. Wenn Kartoffeln kochten oder der am Vortag zubereitete Eintopf im Kessel brodelte, dann fütterte sie die eigenen Tiere und trug ihrer Tochter auf, das Feuer zu hüten.
Anfangs hatte es Anne nicht gestört, in der Küche nicht auf Frau Hagen gestoßen zu sein, aber der geradezu peinlich saubere Raum jagte ihr erneut Angst ein. Sie lief zur Hintertür hinaus. In dem kleinen Garten, zwischen Kartoffelpflanzen und ordentlichen Kohlkopfreihen, war niemand zu entdecken. Anne schaute auch in einem Schuppenanbau nach. Dabei stöberte sie ein Absetzferkel auf, das sofort mit lautem Quieken sein Recht auf Futter einforderte.
„Ja ja, du bekommst gleich was“, herrschte sie das Tierchen an. Nervös schaute sie sich um und schüttete ein Futtergemisch in den Trog, das schon bereitgestanden hatte, allerdings in der Sommerhitze sauer geworden war. Das Ferkel störte sich nicht an dem widerlichen Geruch und machte sich gierig über die Pampe her.
Anne ging zurück ins Haus und schaute Marie nachdenklich an, die gleich ihrer Puppe in unveränderter Haltung sitzen geblieben war. Die offene Tür und das unversorgte Ferkel beunruhigten Anne. Die Nachbarn würden nichts fortnehmen, das war klar, aber sie hatte Frau Hagens ordentliche Küche gesehen und war überzeugt, Maries Mutter hätte niemals die Tür halboffen und ihre Tiere unversorgt gelassen.
Vielleicht ist Frau Hagen vor Sorge fortgelaufen, um Marie im Dorf zu suchen. Ja, so und nicht anders wird es gewesen sein, dachte Anne und sie beschloss, noch eine Weile zu warten. Vielleicht fragte Frau Hagen im Herrenhaus nach. Elsi würde sie dann hierher zu Marie nach Hause schicken. Anne schluckte, als ihr einfiel, weshalb Frau Hagen auch nur einen Gedanken an das Herrenhaus verschwenden sollte, wo sie ihre
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