Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
werden.
Mein Gott, ich möchte nicht alt werden, um dann so zu leiden, schoss es ihr bei dem Gedanken an das schmerzverzerrte Gesicht durch den Kopf.
Frau Hagen behielt recht, Elisabeth Schulz wusste, was zu tun war. Anne wurde nach Hause entlassen. Der nächste Knecht, der Elsi über den Weg lief, erhielt sofort den Auftrag, einige Schaufeln Lehm von der Grube hinter dem Dorf zu holen. Unterdessen kümmerte sie sich in der Hagenschen Wohnung um heißes Wasser für eine warme Lehmpackung und brühte Tee aus Tausendgüldenkraut.
Nachdem die Lehmpackung die schlimmsten Schmerzen gelindert hatte, holte Elsi sechs Frauen aus der Nachbarschaft zusammen. Mit vereinten Kräften hoben sie den verkrampften Körper auf das einfache Lager.
Seit Kindertagen war Elisabeth mit Eleonore befreundet. Sie litt mit der Kranken, als der Tränen übers Gesicht liefen.
Kaum hatten die Nachbarrinnen die kleine Wohnung verlassen, setzte sich Elsi ans Bett. Eleonore fuhr sich tapfer lächelnd mit dem Handrücken übers Gesicht, um verstohlen die Tränen fortzuwischen. Nichts lag ihr ferner, als ihrer Tochter Kummer zu machen.
Marie saß trotz des Trubels, den die vielen Frauen in der winzigen Kammer veranstaltet hatten, unbeteiligt auf einem Schemel. Eleonore betrachtete ihre Tochter liebevoll. Plötzlich entdeckte sie die Puppe in Maries Armen.
„O Gott!“, stöhnte sie.
„Es wird bald besser, du wirst sehen.“ Beruhigend tätschelte Elisabeth ihrer Freundin die klamme Hand. „Jetzt trinkst du erst einmal meinen Zaubertee“, sagte sie, zwinkerte Eleonore dabei aufmunternd zu und setzte die Tasse an die Lippen der Kranken, „und dann ist das alles bald vergessen.“
„Ja, vergessen! Könnte sie nur vergessen. Es müsste wirklich einen Trank des Vergessens geben. Ich würde ihn Marie sofort einflößen.“
Elisabeth riss die Augen auf und tadelte empört: „Was faselst du da, Lore, kannst du nicht einmal an dich denken!“
Die Gescholtene schaute Elsi mit einem Kummer an, dass es Elsi das Herz abdrückte. Bedeutungsvoll ließ Eleonore den Blick in Maries Schoß gleiten, in dem die junge Frau die Puppe wiegte.
„Aber das ist doch ...“, setzte Elsi an.
„Ja“, erwiderte Lore tonlos. Ihre Augen erforschten die Zimmerdecke, als ob Holzbalken und Lehm geneigt seien, irgendein Geheimnis preiszugeben. „Seit dem Tag vor acht Jahren, seit diesem verfluchten Tag war auch die Puppe verschwunden. Ich frage mich, wo Marie das Ding plötzlich herhat?“ Hoffnungsvoll schaute Lore zu Marie hinüber, ob irgendeine Regung ihres Gesichtes Auskunft gäbe. Oder ob das Auftauchen der Puppe Marie endlich von dem Übel befreit habe, das sie während der vergangenen acht Jahre nicht losgelassen hatte.
Nein. Kein Zeichen.
„Marie ist heute nicht zu Hause gewesen, als ich mir den verdammten Rücken ausgerenkt habe. Die kleine Anne Jessen hat sie erst heute Abend heimgebracht. Weißt du, wo die beiden Mädchen am Nachmittag gewesen sind?“
Elsi lief es kalt den Rücken hinunter. Unbewusst schüttelte es sie, als ob sie irgendeine Last abzuwerfen hätte. Lore deutete ihr Erschauern allerdings anders: „Nun, auch du kannst nicht alles wissen, obwohl die meisten im Dorf dieser Meinung sind.“
Elsi widersprach nicht. Wozu die Seele der Kranken belasten, die Schmerzen im Rücken waren Plage genug.
„Nein, ich kann nicht alles wissen“, bestätigte sie, „aber ich will versuchen, es herauszufinden.“ Mit einem schnellen Blick auf Marie fragte sie: „Möchtest du, dass Marie bei mir schläft? Ich habe reichlich Platz in meiner Kammer.“
„Nein, nein. Wir kommen zurecht, aber ich danke dir“, wehrte Lore müde ab.
Elsi erhob sich. Alles was sie tun konnte, war getan. Auf dem Weg zur Tür nickte sie Mutter und Tochter zum Abschied freundlich zu.
„Gut, ich sag dem Verwalter Bescheid, dass du die nächsten Tage nicht arbeiten kannst. Ich schick dir die Helga mit dem Essen, die kann auch die Umschläge erneuern.“ Sie hatte bereits die Klinke in der Hand, da drehte sie sich noch einmal um und fragte: „Ach übrigens, hast du schon gehört? Der Graf kommt in einigen Tagen, nicht wie üblich erst zum Erntedankfest.“
Lore winkte ab. „Ja, das ist im ganzen Dorf rum. Ich hab es von Traute Fritsche.“
„Ach so?“ Enttäuscht, keine Neuigkeit verbreiten zu können, verabschiedete sich Elsi endgültig.
Franz wusch sein staubiges Gesicht. Er hatte das Zimmer kaum betreten, da war ihm der entrückte Gesichtsausdruck der
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