Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Landschaft zu. Abgebrochene Steilküstenabschnitte, die wie Fremdkörper auf dem Strand lagen, waren stumme Zeugen ihrer Kraft. Mitgerissene Sträucher und Gräser hatten dort unten noch nicht aufgegeben zu grünen, sie konnten nicht ahnen, endgültige Opfer der nächsten Sturmflut zu werden.
Johanna nahm das Glas an die Augen und suchte den Horizont ab, der sich im Dunst zwischen Meer und blassblauem Himmel aufzulösen schien. Beim nächsten Schwenk huschten die Schwäne durch das Blickfeld des kleinen Doppelglases. Doch sie schenkte den eleganten Vögeln nur kurz ihre Aufmerksamkeit, schwenkte suchend über den steinigen Strand und im nächsten Augenblick traute sie ihren Augen nicht. Ungläubig setzte sie das Glas ab und starrte hinunter.
„Was hast du?“, fragte Margitta, die dem starren Blick der Freundin folgte. „Dein Christian wird doch nicht etwa an der Seite einer anderen Dame dort unten lustwandeln“, neckte sie, denn nach dem Kirchgang hatten die jungen Mädchen und die Offiziere heimlich verabredet, am Heiligen Damm, im sogenannten Gespensterwald, einander begegnen zu wollen. Das Treffen sollte selbstverständlich einen rein zufälligen Charakter haben.
Margitta wandte sich um. Aus sicherer Entfernung leuchteten Baronin von Plessens und Demoiselle Engelmanns Schirme durch das verkrüppelte Gehölz. In der Dämmerung oder unter weniger schönen Witterungsbedingungen konnte es wirklich gespenstisch aussehen.
Die Mädchen hatten sich absichtlich zurückfallen lassen, um so der Verabredung etwas schneller zum Erfolg zu verhelfen. Aber auf dem Waldweg hinter ihnen war von den Offizieren noch nichts zu sehen. Unterhalb des Kliffs, auf dem schmalen und steinigen Strandstreifen, waren allerdings einige Herrschaften unterwegs, jedoch ausnahmslos Männer. Auch deshalb fand Margitta nicht so einfach heraus, wem Johannas Aufmerksamkeit galt. Die Freundin sah eher so aus, als sei ihr ein Gespenst erschienen, was in einem Gespensterwald hin und wieder vorkommen sollte.
„Mir war, als hätte ich meinen Vater gesehen“, sagte Johanna mehr verwundert als verwirrt, doch sie wollte ihrer eigenen Beobachtung keinen Glauben schenken. „Aber das kann nicht sein, oder?“, bemerkte sie. Sich Recht gebend schüttelte sie heftig den Kopf und schaute zweifelnd zu Margitta hinüber und hielt ihr wortlos das Theaterglas hin.
Margitta kniff die Augen zusammen und sah sie skeptisch an. Bisher hatte Johanna sich nicht vor Heimweh verzehrt. Bei einem Blick durch das Glas wurde Johannas Entdeckung gewiss als Verwechslung entlarvt. Margitta suchte den Strand ab, dann ließ sie das Glas langsam sinken.
„Es ist dein Vater!“
Die Feststellung brachte Johanna nun doch aus der Fassung. Ihr erster Impuls war Freude, doch tief in ihrem Unterbewusstsein nistete Besorgnis, gleich daneben die pure Angst. Sie wollte rufen, aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Ihr Vater hatte gute Gründe gehabt, sich der Kur in Doberan nicht anzuschließen, weshalb er es jetzt getan hatte, war schlecht erklärlich.
Sie wollte ihrem Hirn nicht gestatten, Besorgnis und Angst aus ihrem Schattendasein zu entlassen. Sie stand dort oben auf der Klippe, ihre Hand fühlte die Rinde des verwachsenen Baumes und doch war sie nicht am Heiligen Damm. Ihre Zeitreise versetzte sie um elf Jahre zurück. Sie war damals zu Besuch in Pommern bei der einzigen Großmutter gewesen und hatte freudig erregt die Stimme ihres Vaters gehört, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Im Nachbarzimmer hatte er mit ruhigen Worten und sehr leise mit der Großmutter gesprochen. Der erstickte Schrei der alten Dame war Johanna durch Mark und Bein gefahren. Niemals zuvor hatte sie so einen Laut vernommen, der so wenig menschlich geklungen hatte. Die Großmutter war an Vaters Brust gesunken und hatte bitterlich geweint.
Johanna sah sich als fünfjähriges Mädchen die Szene beobachten. Sie erinnerte sich in klaren Bildern des Moments und der Gedanken, die sich ihm, dem Kinde, aufgedrängt hatten. Damals hatte es sich noch vor der Dunkelheit gefürchtet und regelmäßig bittere Tränen geweint, wenn es schlafen gehen sollte. Es hatte Mutters oft gehörter Gutenachtgeschichte geglaubt, in der davon die Rede gewesen war, eines Tages würden die Tränen aller Erwachsenen ins Meer rollen, und nur deshalb schmecke das große Wasser salzig. Bis zu jenem Tage hatte das kleine Mädchen keinen Erwachsenen weinen gesehen.
Ungläubig war es auf Vater und Großmutter zugegangen, ungläubig
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